Foto: "Ein Flanellnachthemd" als Augmented Reality Theater © Stadttheater Ingolstadt
Text:Anne Fritsch, am 26. Juli 2023
Lukas Joshua Baueregger inszeniert ein Augmented-Reality-Theater als Koproduktion von Staatstheater Augsburg und Stadttheater Ingolstadt: Ausgehend von Leonora Carringtons Einakter „Ein Flanellnachthemd“ erkundet er die Möglichkeiten des Virtuellen in Verbindung mit dem Analogen, schafft surreale Miniaturen, die der Autorin gerecht werden – kümmert sich aber zu wenig um die praktische Umsetzung.
So ähnlich muss sich wohl Alice gefühlt haben, als sie nach ihren Abenteuern im Wunderland eine Parallelwelt hinter dem Spiegel erkundete. Das Augmented-Reality-Projekt mit dem Titel „Ein Flanellnachthemd“, das Regisseur Lukas Joshua Baueregger als Koproduktion von Stadttheater Ingolstadt und Staatstheater Augsburg entwickelt hat, basiert auf einem Text von Leonora Carrington – und verbindet die surrealen Szenen der Autorin mit der Phantasmagorie eines virtuellen Raums. Oder vielmehr: sechs virtuellen Räumen. Amelie Seeger und Benjamin Seuffert haben ein ganzes virtuelles Haus designt: Laden, Speisesaal, Schlafzimmer, Küche, Bad, Dachboden. Diese Räume eröffnen sich über einen QR-Code auf den Plakaten, die im Stadtraum verteilt hängen – oder über Postkarten, die einen Zugriff von daheim erlauben.
Augmented Reality, das ist eine ins Virtuelle erweiterte Realität, das Zusammenspiel von Digitalem und Analogem. Und das funktioniert hier so: mit dem Handy den QR-Code scannen, das Programm öffnen, die Handy-Kamera auf das Plakat richten – und eintauchen in die digitale Welt dahinter. Durch Drehungen des Handys kann man sich im dreidimensionalen künstlichen Raum umsehen, den Schauspieler:innen mit Blicken folgen. Das Gerät muss dabei immer auf das Plakat gerichtet sein, was tatsächlich die Illusion nährt, das Ganze finde irgendwie live dahinter statt. (Natürlich nur, wenn alles reibungslos funktioniert, was tatsächlich ein bisschen das Problem ist. Manche Handys – zum Beispiel meines – zicken nämlich rum, zeigen nur ein schwarzes Loch statt der bunten Räume.)
Eine Schnitzeljagd durch die Stadt
Angelegt ist das Projekt als eine Art Schnitzeljagd durch die Stadt, von einem Plakat zum nächsten, bis alle sechs Räume erobert sind. Eine Schnitzeljagd, die es den Jäger:innen zugegeben nicht eben leicht macht. An jeder Station finden sich in Ingolstadt drei der insgesamt sechs Plakate, vor dem Theater hängen alle nebeneinander. Da das Handy wie gesagt immer auf dieselben gerichtet bleiben muss, während die Szenen ablaufen, muss man sich da durchaus in unbequeme Positionen begeben und einigermaßen verbiegen, um einen Blick in die Parallelwelt erhaschen zu können. Denn die Plakate hängen nicht immer so benutzerfreundlich wie am Paradeplatz, wo man sich gemütlich auf einer Bank niederlassen kann. An der Bushaltestelle vorm Hauptbahnhof muss man tief in die Hocke gehen, und auch das Schauen in den Glaskästen des Theaters ist nicht eben entspannt. Gut, ein Theaterstuhl ist auch nicht immer bequem, und Bequemlichkeit sicher nicht das oberste Kriterium für Kunst – aber sich vor dem Bahnhof auf den Boden kauern, um in eine fremde Welt zu blicken? Ernsthaft?
Reales und Irreales
Es scheint, als hätte das Kreativteam sich um die konkrete Umsetzung, sprich die Platzierung im Stadtraum, nicht mehr gekümmert. Was schade ist, weil so einiges an Potential verpufft. In die künstlerische Realisierung dagegen wurde augenscheinlich viel Zeit und Mühe investiert. Gedreht wurde vor dem Green Screen, die Schauspieler:innen anschließend in die virtuellen Räume montiert, die in ihrer spooky Ästhetik einer Leonora Carrington durchaus gerecht werden. Auch sie belässt ihre Theaterstücke in der Schwebe, im Rätselhaften, setzt eher auf Halluzinationen denn auf Wirklichkeiten, eher auf Assoziationen denn auf Logik.
Ein paar Minuten lang dauern die einzelnen Szenen, manche sind Dialoge mit Text, andere kommen ganz ohne Worte aus. Wie da ein Krokodil aus der Badewanne schnappt, ein schwarzer Schwan sich rhythmisch wiegt, ein Mann mit „Geistern, die Flanellnachthemden sind“, am Tisch sitzt oder aber ein dreiarmiges kopfloses Wesen den Hausherrn in der Küche meuchelt… Solche Szenen scheinen wie gemacht für eine virtuelle Realität. Die Verbindung von realen Spieler:innen und irrealen Elementen übt eine ganz eigene Faszination aus. Wie im analogen Wunderland auch: einen tieferen Sinn sollte man nicht suchen in diesen Miniaturen des Sonderbaren. Sich eher verzaubern lassen von Technik und Atmosphäre. Kleiner Spoiler: Ausgerechnet das titelgebende Flanellnachthemd wird nicht mehr geführt in der Kurzwarenhandlung im Erdgeschoss dieses mysteriösen Hauses. „Die trägt heute niemand mehr, das ist völlig unmodern“, so die strickende Verkäuferin Dwyn. „Alle tragen gestreifte Pyjamas.“
In Ingolstadt wird das Projekt bis Ende September zu sehen sein, in Augsburg bis zum 4. September.