Foto: Nadja Mchantaf (Das Kind) und Ivan Turšic (Mr. Mathe) © Ike Freese/drama-berlin.de
Text:Joachim Lange, am 27. Januar 2017
Ob’s nochmal so klappt wie mit der „Zauberflöte“? Ein Sensationserfolg, in den man (wie geschehen) ganze Schulen schicken konnte? Da wurde am Ende gejohlt wie sonst nur beim Rockkonzert oder vom Musical-Publikum? Das lag natürlich zu einem Gutteil an Mozart. Man wird eben nicht umsonst über die Jahrhunderte zur meist gespielten Oper. Aber es lag in dem konkreten Fall auch an der Machart. Einer ganz neuen, witzigen Melange aus Kintopp und Oper. Bei der man die – nun ja, nicht gerade weltbesten – Sprechtexte durch augenzwinkernde Sprechblasenbeiträge ersetzten konnte. Ohne dem Stück dabei zu schaden. Und dann diese Königin der Nacht! Eine Riesenspinne, von der nur der Kopf von der Sängerin beigesteuert wurde – „uahhh!“ schön schaurig war das. Der findige Regisseur Barrie Kosksy (immerhin brauchte eine Hans Neuenfels Zauberflöte eine Nachfolgerin) hatte die britische Theatergruppe „1927“ mit ins Boot geholt. Also ein bisschen auf eine ästhetische Revolte spekuliert und haushoch gewonnen! Die Produktion wurde zur preisgekrönten Marke. Und zum Exportschlager.
Natürlich verlangt so etwas nach einer Wiederholung. Und da ist sie: als Doppelabend aus Igor Strawinskys dramatisch beredeter Ballettmusik „Petruschka“ (die stammt eigentlich von 1911, wird in Berlin aber vom famosen Markus Poschner und dem hörbar inspirierten Orchester des Hauses in der Fassung von 1947 gespielt) und Maurice Ravels exemplarischer Kinderzimmer-Alptraumgeschichte, die mit dem schlichten Titel „Das Kind und der Zauberspuk“ auskommen muss (das Original L’Enfant et les Sortilèges klingt natürlich entschieden bedeutender). Diesmal ganz in der Verantwortung der Briten. Suzanne Andrade und Esme Appolton stehen für die Inszenierung und Paul Barritt für die Animationen. Was in dem Falle tatsächlich gleichberechtigt genannt werden muss, denn die cineastische Seite des Abends ist die entscheidende. Die mitspielenden und singenden Menschen bleiben eher nachgeordnetes Beiwerk. Oder werden zur Verlängerung der gezeichneten Figuren ins Dreidimensionale aus Fleisch und Blut sozusagen. Im Falle Petruschkas müsste man anfügen: aus Muskeln. Denn da ist als lebender Patap der waschechte Muskelmann Slava Volkov mit von der Partie und macht eine ebenso gute (von jeder Schwerkraft unbehelligte) Figur wie Paulina Räsännen als Akrobatin Ptitschka und der Clown Petruschka, dem Tigo Alexandre Fonseca das Daumendrücken der Zuschauer bei seinen Fluchtversuchen vor der Gewalt des bösen Gauklers sichert, der seine Puppen zum Leben erweckt hat, aber nur um sie vorzuführen und zu quälen. Der freilich bleibt, wie das ganze bunte, mit Sprechblasen und mit Wundern und Sensationen gespickte Jahrmarktstreiben in die Zweidimensionalität der rampennahen Projektionsleinwand gebannt. Diese Melange aus Cineaistischem, Comic und Pantomime, die sich nach den Vorgaben der Musik zu einem eigenständigen Seh- und Hörvergnügen verbindet, fasziniert mit ihrer überbordenden Fantasie ebenso wie durch ihre Präzision. Man ahnt, was da für Proben-Anstrengungen vorausgegangen sein müssen.
Bei Ravels Alptraumoper sieht man dann zwar mehr Menschen. Der Kopf der famosen Talya Lieberman als strahlende Sonne macht besonderen Eindruck. Auch die ausgestopfte Nadja Mchantaf als Kind oder Ezgi Kutlu als Mutter fallen natürlich unter all den Tieren und lebendigen Gegenständen besonders auf. Doch es bleibt schade, dass man den Kinderchor erst beim Schlussapplaus zu sehen bekommt. In dem bunten, fantasievollen Treiben auf der Leinwand ziehen die Briten zwar alle Fantasieregister, wollen allerdings auch dann nicht wirklich in die Abgründe der menschlichen Natur blicken, wenn das Kind seiner Bosheit freien Lauf lässt. Hier kommt keine Tasse und kein Tier wirklich zu schaden. Und es brennt auch nichts ab. Alles bleibt ganz offensichtlich „nur“ Kino, Comic und Musik mit bewegten Bildern. Ganz gut als Einstiegsdroge mit Nebenwirkung. So geht Oper halt auch.