Während in Albees genialem Psychodrama nur ein imaginäres Kind getötet wird, stirbt in der Vorgeschichte der „Orestie“ die Tochter Iphigenie durch die Hand des Vaters, dann er durch die Frau und schließlich diese durch Tochter und Sohn. In den letzten Jahren konzentrieren sich Inszenierungen der Tragödien-Trilogie häufig auf den Konflikt zwischen Klytaimestra und Agamemnon, steht das Familiendrama im Vordergrund. Bedingt auch in dieser Volksbühnen-Inszenierung, wenn George als ödipaler Orest seine Frau und Mutter getötet hat. Klytaimestra (Johanna Bantzer) und Agamemnon (Daniel Nerlich) verhandeln andererseits relativ öffentlich über die rechte Art der Begrüßung, verknüpfen den Ehekrieg mit einer öffentlichen Krise. Arnarsson schafft ungeheuer vielfältige Assoziationspunkte, was so anregend wie beinahe beliebig wirkt – in den Filmszenen aus dem „Ehe-Keller“ ist auf einem Bildschirm wiederum ein Live-Bild der Gesamtbühne zu sehen.
Er bespielt eine große Dreh- und Hub-Bühne, lässt den Countertenor Hubert Wild elegisches Kunstlied bis zu Strauß‘ „Elektra“ dazwischen singen oder (teils gleichzeitig) Sarah Maria Sander als Elektra am Flügel zwischen Chopin und Queens „Mama“ changieren, auch Sir Henry, Gabriel Cazes und Jan Jordan schaffen pianistische Rahmungen. Da bleibt das eigentliche Drama sehr behauptet und undifferenziert, Agamemnon ist ein jämmerlicher Tropf und gescheiterter Dandy, der es nicht schafft, den Flügel zu erklimmen. Das wirkt so slapstickartig-lustig wie isoliert. Ähnlich beliebig im Ganzen sind der schwangeren Sylvana Seddigs Todesbericht als Iphigenie oder Katja Gaudards Gespräch mit Sarah Frankes Chorfigur. Kassandra gibt sich ratlos, Elektra am Piano ist sprachlos. Und fast alle, vorneweg Klytaimestra, drehen sich um „Ich, ich, ich“. Eine Familiengeschichte findet nicht mehr statt, ein klarer Fall für einen Prozess liegt nicht vor. Und ganz am Schluss tapert eine Trump-Gestalt über die Bühne.
Doch auch das Spiel um die Polis und die Gemeinschaft im pandemiebedingt ausgedünnten Parkett ist ein Solo. Sarah Franke eröffnet das Spiel nach der Eheschlacht von George und Martha, klebt Abstände auf den Boden, berichtet von einer Konzeptionsprobe auf Island, von Sorgenfreiheit durch ihre Tätigkeit als Hygienebeauftragte der Inszenierung und wartet als Wächter auf Nachricht aus Troja. Im silbernen Glitzerkostüm fungiert sie überzeugend als zentrale Gestalt der Show. Doch kann Sie am Ende die zur Jury verdonnerten Musiker und Spieler nicht wirklich für einen Urteilsspruch animieren. Wie soll sich aber das Publikum hier auskennen und Interesse an den Figuren entwickeln? Und ist es, wie bei der Figur George-Orest nahegelegt, wirklich das zentrale Problem der Tragödien in der Gesellschaft früher und heute, dass das Verhältnis von Spiel und Recht gestört ist?
Fast scheint in dieser „Orestie“ eine Corona-beschleunigte zweite Postmoderne zu besichtigen. Die von der einsamen Choristin erhoffte Katharsis kann es in diesem geschickt inszenierten, inhaltlich aber vagen Zuviel nicht geben.