Foto: Szene aus "Cascade" von Meg Stuart © Martin Argyroglo
Text:Verena Blatz, am 11. September 2021
Meg Stuarts „Cascade“ erschafft mit sieben Tänzer*innen und zwei Trommlern ein eigenes Universum. In einem galaktischen Raum, umgeben von Sternen und Planeten, agieren die Performer*innen wie neu geboren. Sie ertasten ihre Umgebung, bestehend aus luftgefüllten und beweglichen Felsen, Rampen, herabhängenden Seilen und mit Schaumstoff gefüllten Netzen (Szenografie und Licht: Philippe Quesne). Voll Unsicherheit und Hilflosigkeit erforschen sie die neue Umgebung mit ihren Körpern: Weiche Hügel verändern ihre Form, während die Tänzer*innen sich einerseits anpassen und andererseits eigene Individualitäten entwickeln, wie auf einem großen Spielplatz, wo sich jeder ausprobieren darf.
Außer der räumlichen gibt es die soziale Umgebung: Alle „Bewohner*innen“ bringen neue Erfahrungen ein, werfen implizit Fragen auf: Wie gehe ich mit anderen um, bewege ich mich mit oder ohne sie? Wird meine Bewegung von den Bewegungen der anderen beeinflusst? Hier sucht eine Gruppe sehr verschiedener Individuen nach Regeln für ein Zusammenleben, strebt gleichzeitig aber auch nach Autonomie und Freiheit.
Die Tänzer*innen sind so unterschiedlich in Alter, Körperlichkeit, Hautfarbe, Charakter, Temperament, dass sie nahezu einen Mikrokosmos der Weltbevölkerung abbilden. Als wären die Zuschauer*innen tatsächlich für die Zeit der Aufführung mit den Performer*innen in einem eigenen Universum. Überhaupt ist die gemeinsam erlebte Zeit ein zentrales Motiv der Produktion. Nicht nur mit Wahrnehmung, Bewegung und Umgebung wird gespielt, auch zeitliche Abfolgen werden seziert: Das Medium Tanz ist für ein Spiel mit zeitlicher Wahrnehmung geradezu prädestiniert. Stuart arbeitet mit Verzögerung, Verlangsamung, Wiederholung und Synchronisierung von Geschwindigkeiten. So wird jegliche Zeitwahrnehmung erfahrbar und hinterfragt.
Auch die Suche nach einer besseren oder zumindest anderen Welt wird thematisiert: „What if we could find a door to another place?”, fragt eine Performerin und wünscht sich, Namen von Sternen zu verändern. Einen Stern habe sie nach ihrem Hund benannt, einen nach ihrer Nachbarin und einen dritten nach ihrem Cousin. Beliebigkeit steht hier neben dem Wunsch zur Kategorisierung – ein Charakteristikum unserer Zeit: Aber hilft es wirklich, Zusammenhänge besser zu verstehen, wenn wir alles benennen, einordnen und beschriften?
Stuart arbeitet in „Cascade“ auch musikalisch stark mit Dynamiken: Philipp Danzeisen (Schlagzeug) und Brendan Dougherty (Schlagzeug und Komposition) steigern und retardieren ihr Spiel wie im Rausch. Genauso entwickelt sich die Choreografie hin zu ekstatischen, ungezügelten, scheinbar unkontrollierten Bewegungen. Bis es zu einem Moment des direkten Kontakts von Akteur*innen und Zuschauer*innen kommt: Alle sieben Tänzer*innen stehen plötzlich in privaten Haltungen da, zeigen sich schwitzend, Luft zu fächernd, entspannt. Es ist nur ein kurzer Moment der Privatheit. Sie sehen ihr Publikum an und nehmen Kontakt zu ihm auf, im Hintergrund Strand, Meer und Sonnenuntergang, der Titel „Cascade“ erscheint in schnörkeliger Schrift auf der Bühnenrückwand, gefällige Boy-Band-Musik erklingt.
Hier wird die kollektive Sehnsucht nach einer schöneren Welt inszeniert, die so oft mit der Sehnsucht nach einem fernen Ort, Traum-Urlaub, einer Pause vom Alltag gleichgesetzt wird. Doch ist diese bessere Welt wirklich in ein paar Flugstunden zu erreichen?