Foto: John Neumeiers Ballett „Turangalîla“ © Kiran West
Text:Vesna Mlakar, am 4. Juli 2016
Olivier Messiaens Symphonie „Turangalîla“ aus dem Jahr 1948 steckt voller emotionaler Bögen – über zehn Einzelsätze hinweg rhythmisch und tempodynamisch mitreißend vertrackt. Ein sinnlich gigantisches, den Zuhörer allein schon akustisch packendes Klangspiel von rund 80 Minuten, das in seiner unkonventionellen Werkform ein immenses Instrumentarium mit riesigem Streicherapparat, großer Schlagwerk-Vielfalt sowie – solistisch markant – den Tastenzauber eines Klaviers und die eindringlichen Tonfarben der Ondes Martenot erfordert.
Für die Eröffnungspremiere der 42. Hamburger Ballett-Tage hat John Neumeier sich meisterhaft in die bedeutungsschwangere innere Struktur und die vier zyklischen Themen der Komposition hineingedacht. Nicht intellektuell, wie sonst so oft in seinen choreografisch erzählerischen Arbeiten, sondern intuitiv, gefühlsdramatisch und – dank seiner herausragenden Tänzerinterpreten – brillant körperformal. Immer ausgehend von der Partitur und den klaren Beschreibungen Messiaens, der im Stück bestimmte altindische, im Sanskrit als Turangalîla bezeichnete rhythmische Muster verwendet, seine kompositorischen Ideen aber auch aus den ursprünglichen Bedeutungen der Silben Lîla (Spiel – im Sinne göttlichen Einwirkens auf das kosmische Geschehen) und Turanga (Zeit, die davoneilt wie das galoppierende Pferd) zieht.
Gleich zu Beginn, den Neumeier heftig, ja fast wie den Einstieg zu einem neuen „Sacre“ angeht, stürmt eine Gruppe Männer kraftvoll irrlichternd über einen großen weißen Tanzbodenkreis. Sie zittern und schlackern (überwältigend krass: Aleix Martinez und Konstantin Tselikov) – von der Musik quasi in den Raum gepeitscht. Vom dominanten Sound motiviert türmen sie sich (im Stückverlauf wiederholt) zu menschlichen Pyramiden auf. Eindrücklich visualisiert der Choreograf hier Messiaens sogenanntes „Statuen-Thema“, ohne dem Zuschauer in irgendeiner Weise eigene Assoziationen zu verbauen. Nur mittels einer, die verschiedenen Sätze verlinkenden Rolle vermag Neumeier das unterbewusste Empfinden zu lenken. Es ist der Part des jungen Christopher Evans, der „Turangalîla“ noch vor Eintreffen des Dirigenten Kent Nagano (seit dieser Spielzeit Hamburger Generalmusikdirektor) am Pult des prominent auf der Bühne platzierten Philharmonischen Staatsorchesters mit einer konzentrierten, dabei verträumt-stillen Sequenz einleitet.
Man mag spekulieren, ob bei diesem Einzelgänger, der empathisch auf das Geschehen um sich herum blickt, Autobiografisches mitschwingt. Immer wieder klinkt er sich in die virtuosen Passagen seiner Kollegen ein, um dann erneut fasziniert-staunend aus ihrem spirituell aufgeladenen Kosmos herauszutreten. Neumeier jedenfalls schickt einen Jüngling aus, der das Aufflammen von Liebe und ihrer verschiedenen Aspekte, Stufen und Formen mit Leib und Seele erfahren soll – bis hin zu einem kunstvoll arrangierten Kuss, den Evans kopfunter in die Höhe gehalten von den Lippen eines am Boden liegenden Mädchens empfängt.
Wegweiser inmitten unterschiedlich schnell fließender Ensemblesequenzen und Paarstaffelungen, die sich permanent strukturanalytisch ineinander verschieben oder umkreisen, ist die emotionsstarke Musik. Deren kaskadenartig zu einem finalen Glücksgetöse sich aufbauende Folge von Steigerungen lässt Messiaen-Spezialist Nagano jede Sekunde voll ausmusizieren. Nur zwischen den Sätzen halten die Musiker inne, wenn in bedachten Bewegungen der Tänzer noch die Emotionen soeben verklungener Melancholien und Beziehungstaumel (Hélène Bouchet/Carsten Jung), gemeinschaftlicher Freuden (Florencia Chinellato/Edvin Revazov) oder sprunghafter Passionen (Mayo Arii/Alexandr Trusch) nachhallen.
So entstehen kurze Momente der Überleitung, in denen die von Heinrich Tröger im Hintergrund mit einer bespielbaren Balustrade architektonisch ausgestaltete Bühne ganz dem Tanz gehört. Sie helfen, das Werk in seinem Aufbau zu begreifen. Ganz wie die bewusst eingesetzte Farbpalette des Modedesigners Albert Kriemler (Akris), der für die Haute-Couture-Kostüme verantwortlich zeichnet. Neumeiers neuer, fulminanter sinfonischer Ballettkreation verleiht sie den letzten Schliff: ein wirkungsvolles Spektrum aus pastelligen, kräftigen und erdig-satten Rottönen, das in eine Harmonie von Schwarz-Weiß mündet. Der eineinhalbstündige, kompakte Abend strahlt gleich einem Vexierbild. Man möchte ihn wieder und wieder ansehen.