Dabei ziehen Wieler und sein Regiepartner Sergio Morabito aber noch eine andere, irritierende Ebene hinter der Fassade ein. Als der Graf etwa Amina das erste Mal erblickt, steigen offenbar dunkle Erinnerungen in ihm hoch. Wenn sich dann am Ende jene wie ein Gespenst herum geisternde Frau, der die Dorfbewohner immer etwas zu Essen hinstellen, zu ihm an den Tisch setzt, und offenbar nur für ihn sichtbar ist, dann schwebt die Möglichkeit über der Szene, dass Amina seine Tochter und die spukende Frau die von ihm einst verlassene und von allen verstoßene leibliche Mutter ist. Und wenn Amina bei ihrem öffentlichen Entlastungs-Auftritt als Schlafwandlerin, blutend vor Schmerzen windet, ahnt man die Möglichkeit, dass ihre nächtlichen Ausflüge eine Flucht aus den Zwängen einer rigiden Sexualmoral (mit entsprechenden, vielleicht fehlgeborenen Folgen) sein könnte.
Wieler, Viebrock und sämtliche Protagonisten liefern also ans Herz greifendes Menschentheater mit einem irritierenden doppelten Boden. Und das am Beispiel einer angeblich ja so regieresistenten Belcanto-Oper! Musikalisch gab es nicht nur in der Titelpartie jene Dosis von Virtuosen-Glanz, die Belcanto so verführerisch macht. Luciano Botelho ist ein sanft einschmeichelnder Elvino, Helene Schneiderman eine beherzte Ziehmutter und Catriona Smith als Lisa ein erfrischend spätes Mädchen. Gabriele Ferro demonstrierte am Pult, zu welchen Feinheiten und zu welcher Verführungskraft das Staatsorchester fähig ist, wenn alle in die gleiche Richtung wollen. Zu einem Musiktheater der Spitzenklasse. Die Stuttgarter feierten (nach Andrea Moses‘ „Faust Verdammnis“) nun auch Jossi Wieler für den überzeugenden Auftakt einer durchdacht geplanten und unaufgeregt begonnenen neue Wegstrecke der Stuttgarter Oper. Vielleicht ja zurück an die Spitze.