Foto: Alice Baccile und das Ensemble © Ursula Kaufmann
Text:Jens Fischer, am 17. Februar 2017
Ach, die Liebe. Von einem edlen Gefühl schwärmen die Romantiker, von einer kostenfrei per Dating-App erhältlichen Droge sprechen die Realisten, an einen Parship-Algorithmus des genetischen Fortpflanzungsprogramms glauben die Biologen. Kurzfristiger Glücksrausch, langfristige Sucht. Die Abhängigen sind am somnambul verwirrten Auftreten und zunehmender Erblindung zu erkennen: taumeln hirnwütig, herzrasend durch die Nacht. Genau so beginnt Gregor Zölligs Tanzstück „Dein Herz ist meine Heimat“. Denn genau so bewegt sich ein strubbeliger Jüngling von rechts nach links über die Bühne und spricht mit fiebrigem Gemüt: „Vergleich ich dich mit einem Sommertag? / Du hast mehr Maß und größere Lieblichkeit…“ Ach, die Liebe.
Rezitiert wird Shakespeare 18. Sonett: der Versuch, die Leidenschaft zu einem namenlos besungenen Schönling von edlem Stand zu verewigen, indem die ganze Raserei ins 14-zeilige Format diszipliniert wird. „Solang ein Mensch noch atmet, Augen sehn, / solang dies steht, so lang wirst du bestehn.“ Wie in die Fantasie des Junkies blicken die Theaterzuschauer auf die Hinterbühne, eine Breitwandkinoszenario, in dem Figuren zu den Verzückungen aus einer nebulösen Todeslandschaft auftauchen. Erst ein Mann, dann eine Frau. Die Beschränkung auf rein heterosexuelle Tête-à-Têtes war in der Renaissance noch nicht üblich. Da aber die vorgestellte Liebe eine in Gedanken ist, tanzen ihre Objekte die Einsamkeit mit ausschwingender Sehnsucht und traurigen Selbstumarmungen. Nach und nach trottet das Ensemble herbei und versetzt die eigenen vereinzelten Körper in partnersucherische Bewegung. Und verschwindet. Ein Paar bleibt zurück. Kann die Finger voneinander nicht lassen und klebt die spaltbreit geöffneten Münder aneinander. „Nicht schön“, beschwert sich die Frau. Wischt den Knutschspeichel von den Lippen. Beide ziehen eine Kussanleitung zu Hilfe und versuchen es noch mal – so richtig mit Augen zu und rotierender Zunge. Da kocht das Blut, es rinnt der Schweiß. Herzensflammenbrand. Hinfort mit der Oberbekleidung.
Fingerkuppen abenteuern über die nackte Haut, Nägel ziehen Striemen der Lust. Es wird gepiekst, gestreichelt, gekitzelt, gekuschelt. Schließlich schultert und entführt er sie. Nein, das ist keine Softporno-Miniatur, sondern das erste von reichlich Duetten, die von den Ensemblemitgliedern in wechselnden Besetzungen in ihrer jeweils eigenen Bewegungssprache formuliert sind, stets mutig um Authentizität bemüht und Intimität nicht scheuend. Es geht um Liebesprobleme wie einseitiger Zuneigung, zu großer Nähe, Verlustangst, Hörigkeit, Hölle der Eifersucht und wilde Schönheit des Verlangens. Zu sehen ist ein kleines Spektrum dessen, was Körper, die voll auf Liebe sind, so miteinander anstellen. Da robbt der weibliche, von Babys, Heirat, großer Familie schwadronierende Körper dem männlichen hinterher, sich den Ansprüchen entziehen will.
Es folgt ein erfahren wirkendes Paar, das in herb rustikaler Direktheit ihre Geilheit in Art eines Zweikampfs auslebt. So scheint es. Bis sie sagt, ihm fehle die Leidenschaft. Sofort wird das gesamte Ensemble zu einer Schulung einberufen, alle erdenklichen erogenen Zonen eines Partners mit schmatzendem Feinsinn der Lippen Sinnlichkeit zu stimulieren. Woraufhin weiteres Aufeinanderzu, Voneinanderweg, Umeinanderherum, miteinander Verknoten präsentiert wird. Manchmal kugeln die Paare wie Welpen über den Boden. Manchmal sind schlichte Gockel- und Hennentänze zu sehen. Manchmal schaut es auch aus, als würde Sigmund Freuds These bebildert, die Liebe sei nichts als der unbewusste Wunsch, in die Geborgenheit an Mutters Brust zurückzukehren. Und wenn mal ein angebetetes Wesen nicht will, wird das als Chance für ein kleines Solo genutzt – mit einem gigantischen Poster des Beschwärmten als Kuscheldecke, auf der sich auch prima räkeln lässt.
Diese Nummernrevue ist unterbrochen von Gruppenszenen: warmmachen für den Überschwang des nächsten Pas de deux, das auch mal als Heißrubbeln der Körper auf dem Bühnenboden praktiziert wird. Zum Tanz- dirigiert Samuel Emanuel geradezu filmmusikalisch ein Musikpotpourri – von Renaissance-Kompositionen bis hin zu zeitgenössischem Ludovico-Einaudi-Kitsch. Als mal Ruhe ist, erzählen die Tänzer schnell noch von ihrem ersten Mal – recht lust- bis trostlose Geschichtchen, aber einmal fühlte sich der Sex auch an „wie Sambatanzen ohne Vorkenntnisse“. Dann werden Papierschnipsel in die Luft geworfen: dancing in the confetti-rain. Oder sind es Blütenblätter eines Sie-liebt-mich-sie-liebt-mich-nicht-Rituals? Schöne Bilder, ja, die gibt es auch mal zwischen all den Momentaufnahmen.
Was fehlt sind eine choreografische Handschrift, dramaturgische Stringenz und inszenatorische Wucht bei der Transformation der flirrend amourösen Verwirrungen zu Raum, Bewegung und Klang. Für eine große Produktion mit großen Ensemble und dem Staatsorchester Braunschweig im großen Haus des Theaters – ist diese Präsentation von Tanz-Workshop-Ergebnissen zu Facetten der Liebe ein bisschen wenig.