Foto: „Serotonin“ nach Michel Houellebecq am Hans Otto Theater Potsdam mit Guido Lambrecht. © Thomas M. Jauk
Text:Michael Laages, am 14. Dezember 2025
Fünf Stunden erlebt das Publikum am Hans Otto Theater in Potsdam einen schwer erträglichen und zugleich grandiosen Theaterabend: Sebastian Hartmann hat Michel Houellebecqs „Serotonin” in weiße Szene gesetzt – und Guido Lambrecht macht den widerwärtigen Ich-Erzähler zum Ereignis.
An offensiver Großmäuligkeit auch in allerletzten Dingen ist dieser Autor ja kaum zu überbieten: „Wer nicht den Mut hat zu töten, der hat auch nicht den Mut zu leben“. So lässt Michel Houellebecq den Ich-Erzähler Fleurant haltlos wie so oft ins Blaue hinein zitieren. Und wer den ebenso fundamentalistischen wie fragwürdigen Satz zu verifizieren versucht, nachdem er gerade zu hören war auf der Bühne und sich festgefressen hat im Gehirn, stellt schnell fest, dass der Satz zwar sozusagen „in der Welt“, aber nicht genau zuzuordnen ist. Großräumig werden Friedrich Nietzsche und Fjodor Dostojewski für die geistige Nachbarschaft bemüht. Beim Franzosen Houellebecq markiert er nun allerdings eine Wahrhaftigkeit, die mindestens hybrid ist – und zumindest eins sein will: spektakulär, provokativ, immer haarscharf am Skandal des Denkens entlang.
Kann ein Mann so widerwärtig sein?
Denn tatsächlich begeht die Figur, die der Schriftsteller erfindet, ja all die Verbrechen nicht, die er sich ausdenkt – etwa das Kind zu erschießen, dass die Ex-Geliebte, die wichtigste unter beunruhigend vielen, inzwischen mit einem anderen Mann hat. So viel hat der Beinahe-Killer herausbekommen – behauptet er. Ob’s stimmt? Was immer Houellebecq diese heruntergekommene Type erzählen lässt, ist tendenziell unglaublich, aber eben auch „nicht zu glauben“, im Sinne des Wortes. Kann ein einzelner Mensch, schlimmer: ein Mann, so grundsätzlich widerwärtig sein?
Selbstverständlich würden Feministinnen und Feministen vermutlich sagen. Und im Falle von Houellebecqs erzählenden Ich-Figuren ist dem auch schwer zu widersprechen. Aber wie verwechselbar sind die abstoßend-ekligen Schrate, die der Autor ins Zentrum der eigenen Bücher stellt, mit dem Schreiber und Denker selber? Wie lebensmüde kann oder muss wohl auch der sein, der von derart fundamentaler Lebensmüdigkeit nur schreibt; vom „Sterben aus Kummer“, wie es kurz vor Schluss heißt in „Serotonin“, dem Roman von 2019?
Auf die Theaterbühne kam der Text im Jahr nach dem Erscheinen am Schauspielhaus in Hamburg. Falk Richter legte auch über dieses Material die bei ihm vertrauten Folien des Theater-Spektakelns, Videos vom feurigen Aufstand nordfranzösischer Bauern gegen die Regeln der EU und gegen die schwerbewaffnete Staatsmacht inklusive. Houellebecqs Ich-Erzähler (und dessen armseliges Verhalten speziell den Partnerinnen gegenüber) hatte Richter vervierfacht; vielleicht vorsichtshalber – welcher Schauspieler hält schon derart viel Ekel und Selbstekel aus auf der Bühne und im eigenen Spiel? Wer Houellebecqs Männermenschen darstellt, geht immer durch Güllebad, und muss sich beschmutzt fühlen… Deshalb ist das fundamentale Ereignis der neuerlichen Begegnung mit „Serotonin“ selbstverständlich der Schauspieler Guido Lambrecht.
Guido Lambrecht als fundamentales Ereignis
Er hat schon eine Menge Abenteuer hinter sich, war einer der Protagonisten von Armin Petras. Jetzt ist Lambrecht in Potsdam engagiert – und ist einer von denen, die sich einzulassen vermögen auf die durchaus fundamentalistische Arbeitsweise des Theatermachers Sebastian Hartmann.
Hartmann, ein paar verrückte Jahre lang prägend als Intendant am Schauspiel in Leipzig, ist herausragend stark in die Spielzeit gestartet: mit dem „Hauptmann von Köpenick“ in Cottbus, danach „Gefährliche Liebschaften“ am Thalia Theater in Hamburg und jetzt mit „Serotonin“. Die Arbeit in Potsdam ist formal die radikalste – denn tatsächlich lässt Hartmann die Fassung des Romans (vom Regisseur selbst und Dramaturg Christopher Hanf erstellt) von Guido Lambrecht ganz allein erzählen, über fünf Stunden lang und ohne Pause. Wir, das belastbare Publikum, dürfen jederzeit entscheiden, wann wir Pause machen und im Foyer ein Schmalzbrot oder Spinatsuppe essen wollen. Draußen ist allerdings live das Video aus dem Saal zu sehen. Und zu hören – nach etwa vier Stunden (und zum Kampf der Bauern ums Überleben im EU-Land Frankreich) rollen fast 15 Minuten lang lärmend die Panzerketten der Polizeifahrzeuge über die Autobahn; ein bestialischer Lärm, der eigentlich nur auf der Toilette in der Reithalle vom Hans-Otto-Theater zu ertragen ist…
Weißes Wesen im Nebel-Nichts
Zu dieser Zeit kennt die Anerkennung für Marathonmann Lambrecht allerdings schon lange keine Grenzen mehr: Seit vier Stunden sitzt er im kleinen, schmucklosen Kasten (Hartmanns selbstentworfener Bühne) auf einer Bank; ganz in weiß gekleidet von Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki, der Stamm-Ausstatterin von Castorf und Hartmann. Weiß ist der Raum, weiß ist die kleine Bank, auf der Lambrecht sitzt. Sehr selten (zum ersten Mal nach etwa 80 Minuten) wechselt er die Sitz-Position, rückt von rechts nach links. Noch viel seltener (zum Schluss und immer wieder in der letzten und besonders intensiven Stunde) steht er auch vorn im weißen Kasten, an der „Rampe“ sozusagen. Und hätte Licht-Designer Lothar Baumgarte auch noch die Konturen der kleinen Sitzbank und den Schatten „weggeleuchtet“, den Lambrecht auf der Rückwand des Kastens wirft, Houellebecqs Ich-Erzähler wäre tatsächlich „in der Nachbarschaft zum Nichts“ zu Hause gewesen. Praktisch unsichtbar im Unsichtbaren – ein Wesen, das nur aus Augen im weißen Nebel-Nichts bestünde.
Und dieses Etwas im Nichts erzählt nun sehr kühl, quasi dokumentarisch, als „Ich“ und im Bericht über den Jungen, der er wohl selber war. Nur wenige Male wird er hitzig und emotional, um dann gleich wieder zu erkalten. Fürchterlich ist das Martyrium, das dieses Nicht-Wesen all den Frauen am Rande des zerstörerischen Weges verpasst, aber zielstrebig auch sich selber und letztlich uns, denen, die Zeuge dieses Untergehens werden. Serotonin, das antidepressive Glückshormon in Tablettenform, führt bei Houellebecq zum völligen Verlust der Libido und lässt die Fähigkeit zu sexueller Betätigung verkümmern. Da läuft nichts mehr.
Am Ende ist Fleurants Körper so übervoll vom Stresshormon Cortisol, dass der Weg in den Suizid im Grunde unausweichlich ist. Und weil sich der Mann ganz gut mit Physik auskennt, weiß er, dass der Sturz aus dem Fenster des Hochhauses, in dem er gegen Ende wohnt, nur fünf Sekunden dauern würde. Und dass er mit 159 Kilometern pro Stunde aufschlüge.
Aber wird er das tun? Er, das „Weichei“, das sich im Grunde nie getraut hat, das zu tun, was er wirklich wollte? Etwa das Kind der Ex-Geliebten zu erschießen? Wer von uns aber, die wir diesem schwer erträglichem (und zugleich grandiosen) Theaterabend zuschauen, besser: beiwohnen, hätte diesem unerträglichen Wesen nicht ein paar Mal in über fünf Stunden gerne zugerufen: Nun tu‘s doch endlich! Verschwinde, schaff Dich endlich ab. Ob so etwas schon jemals passiert ist im Theater?