Szene mit Matthias Caspari, Daniel Rothaug und Mark Oliver Bögel

Gut spielbares Thesentheater

Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter

Theater:Theater Münster, Premiere:04.03.2016Regie:Kathrin Mädler

Der heroische Tugendgrad wurde ihm zuerkannt, aber seliggesprochen ist Papst Pius XII. immer noch nicht. Daran klitzeklein Mitschuld trägt Rolf Hochhuth. In seiner 1963 uraufgeführten Dokufiction-Anklage wird „Der Stellvertreter“ Gottes auf Erden, in Zeiten der Hölle auf Erden, aufgrund seines indifferenten Schweigens zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik als Verbrecher beschimpft. Er sei feige, nazifreundlich, judenfeindlich und trage Mitschuld an den Millionen Tote der Shoah. Mit Messen oder Protesten hätte er wenigstens versuchen können, öffentlich etwas dagegen zu tun. Seit Jahrzehnten ist Pius XII. nun tot, da schickt sich das Theater Münster an, den Fall noch einmal aufzurollen. In einer erzkatholischen Stadt, dessen Kirchen immerhin ein Ort des Widerstandes waren, denn dort predigte der Bischof beispielsweise 1941 gegen Euthanasie und Naziterror. Dafür wird er in Hochhuths Text erwähnt.

Gibt es derzeit nicht wichtigere Probleme und brisantere Stoffe als Päpste und Bischöfe von vorgestern? Sicherlich. Aber Kathrin Mädler, Dramaturgin als Regisseurin, hat die Stückvorlage sehr geschickt eingekürzt und verhandelt wird mit geradezu schillerscher Emphase des Denkens: Zivilcourage vs. Staatsraison. Auch wenn es ihr dabei nicht ganz gelingt, das Papierene aus dem didaktischen Geflecht von Fiktionen, Fakten und Leitartikelsottisen herauszubekommen.

Möglichst kurze, klar gebaute, streng choreografierte, durch Blackouts getrennte Szenen werden sachlich gereiht – in einem kantig sterilen Bunkerbühnenbild (Ausstattung: Frank Albert), das auch ein leergeräumtes Wohnzimmer im modernen Betondesign oder eine Kellerkirche darstellen könnte. Der hineinplatzierte Steinquader ist Verhandlungstisch, Abstellort für Butterbrote, Altar und Kanzel.

Mit einem grotesken Vorspiel werden erstmal Nazifiguren lächerlich gemacht. Sie schunkeln zu Zarah Leanders „Davon geht die Welt nicht unter“, sprechen lustige Dialekte und garnieren ihr pöbelndes Herrenmenschendasein mit Saufen, Kotzen, Würstchenfressen. Polternde Knallchargen! Dann nehmen sie ihre Masken ab – und ein Uniformierter offenbart sich dem Publikum. In der „Stellvertreter“-Verfilmung  Constantin Costa-Gravas war er 2002 der geheimnisumwitterte Held: Kurt Gerstein. Ulrich Tukur gab ihn als zerrissenen, taktisch kaltblütigen, überschwänglich religiösen Idealisten und SS-Mann, der für die Belieferung der Gaskammern mit Zyklon B verantwortlich ist. Den Auftrag im Zentrum der Mordindustrie nutzt Gerstein, um eben diesen Nachschub zu sabotieren und seine Wissen über die Vernichtungsmaschinerie zu protokollieren. Damit will er die Weltöffentlichkeit aufrütteln. In Münster rüttelt er nicht und entwickelt auch kein Heldenprofil. Aurel Bereuter spielt ihn unscheinbar verdruckst, geradezu ängstlich.

Auf der Bühne steht daher der römische Jesuitenpater Riccardo Fontana SJ im Mittelpunkt. Als Gewissen der Aufführung leitet er durch das Stück. Und geht als  tragischer Held (Daniel Rothaug) mit moralischer Inbrunst die Aufgabe an, den Papst von Gersteins Anliegen zu überzeugen. Er scheitert. Macht sich nackig. Malt einen Judenstern auf seine Brust. Flüchtet in den Märtyrerwahn und geht mit jüdischen Deportierten ins KZ. Beklemmender

Aufführungshöhepunkt ist dann die Diskussion des in seinem Glauben verzweifelnden, sich schmerzhaft krümmenden Priesters mit dem stolzgerade ungläubigen Doktor (Mengele). Sie fragen sich: Wenn Papst und Gott bei der Judenvernichtung tatenlos zusehen, welchen Sinn hat da noch die Institution Kirche zur Bewahrung christlicher Werte? Und ist der Allmächtigen dann nicht schlicht überflüssig – oder gar nicht? Einfach tot? Hat nie existiert? „Schöpfer, Schöpfung und Geschöpf sind widerlegt durch Auschwitz“, sagt der Doktor. Die Argumentation ist natürlich nicht neu, wird in Münster aber packend, wie frisch gedacht vorgeführt.

Der personifizierte Feind von Hochhuths antiklerikalem Furor kommt hingegen kaum noch vor. Dann allerdings in einem verstörend schönen Bild: Während Pius XII. mit windelweicher Rhetorik einen nichts sagenden Friedensappell formuliert, regnet Asche auf ihn herab. Seine Adjutanten, fast genauso eitel und antisemitisch wie anfangs die Nazis, erläutern die Gründe fürs beharrliche Raushalten. Als Oberhirte könne der Papst sich nur auf der Seite der Sieger um seine Schäfchen kümmern. Da die Christenheit vom Bolschewismus bedroht sei, müsse Russland aus Europa ferngehalten werden, wozu man Hitler brauche. Und um ihm die Leben wenigstens einiger Tausend Juden abzutrotzen, dürfe er nicht mit kritischen Äußerungen verärgert werden. Eine an Selbstverleugnung grenzende Politik. Aber so laufe Diplomatie nun mal. Andererseits habe das Reichsonkordat 1933 den Diktator erst salonfähig gemacht …

Dank dieser präzisierenden Digest-Fassung der hochuthschen Wortschwälle, die auch den Tribunalcharakter mildert, und mit der formal gebändigten, emotional aber punktuell hochkochenden Inszenierung erweist sich das Werk als gut spielbares Thesentheater über Macht und Verantwortung. Begeisterte Zustimmung für alle – auch für den anwesenden Autor.