Miriam Clark (Aida) und die Statisterie des Nationaltheaters Mannheim

Gut gemeint statt gut gemacht

Giuseppe Verdi: Aida

Theater:Nationaltheater Mannheim, Premiere:29.10.2016Regie:Roger VontobelMusikalische Leitung:Alexander Soddy

Irgendwie war ich ja doch ein bisschen ratlos nach der „Aida“-Inszenierung von Roger Vontobel, mit der Albrecht Puhlmann seine Intendanz am Nationaltheater Mannheim eröffnete. Puhlmann gilt ja als Mann der mutigen Regiehandschriften. Er holte Calixto Bieito nach Deutschland und handelte sich dadurch als Intendant der Staatsoper Hannover eine Menge Ärger ein. Auch in Stuttgart plädierte er immer wieder für die „Geistesgegenwart der Oper“, wie er das einmal in einem DdB-Interview genannt hat. Was aber erlebte man jetzt in Mannheim? Man erlebte den Triumph von Opas Operngesten über eine sinnerfüllte Personenführung. Und den von Regieeinfällen über eine scharfsinnige Werkinterpretation. Nur für Alexander Soddy, den neuen GMD des Hauses, war es ein Einstand nach Maß. Er leitete ein beachtlich gutes Ensemble und einen geradezu überragenden Chor zu einer in der Gesamtschau triftigen und expressiv fesselnden musikalischen Interpretation dieser viel geliebten, aber selten gelingenden Repertoireoper an.

Was den Umgang mit dieser „Niloper“ so schwer macht, ist zum einen die Tatsache, dass es hier um den Nil nur insoweit geht, als Verdi ganz offenbar eine pittoreske, ferne Szenerie für ein Thema seiner unmittelbaren politischen Gegenwart gesucht hat. Ägypten kannte der Komponist nur aus Reiseführern, fürs Kolorit in Antonio Ghislanzonis Libretto war der Ägyptenforscher Auguste Mariette zuständig. In diesem Kolorit aber wird die imperialistische Staatsraison der europäischen Großmächte einer vernichtenden moralischen Kritik unterzogen. Deren Inhumanität allerdings wird im Libretto nur sehr am Rande anhand des unterdrückten Volks der Äthiopier exemplifiziert, sondern vielmehr – ganz im Sinne des romantischen mitteleuropäischen Bürgertums und damit wirkungsästhetisch zweifellos zielführend – an der zerstörerischen Wirkung auf die wahre Herzensliebe. Damit aber wird eine zweite potentiell irreführende Fährte gelegt. Denn trotz aller Versöhnung durch finale Liebesverklärung: In ihrer Zeitanalyse ist Verdis „Aida“ zutiefst unversöhnlich.

Und welcher Fährte folgt Vontobel? Anfangs meint man, dass es ihm um den Aspekt von inszenierter Macht geht, der in Verdis Pomp-Ägypten ja durchaus auch steckt. Der Bühnenbildner Palle Steen Christensen hat eine drehbare Tribüne gebaut, auf deren Schauseite das Volk akklamiert, deren Rückseite aber offene Gitterstab-Architektur zeigt. Hier sieht man, wie Macht gemacht wird. Kein schlechter Gedanke. Dazu passt, dass die Kostüme von Nina von Mechow (fast) jeden Anschein von ägyptischem oder sonstigem Realismus meiden, sondern stets als modern „ägyptisierende“ Kunstkonfektion erkennbar sind. Aber glaubt Vontobel im Ernst, dass Macht jemals so unbeholfen inszeniert wurde wie in seiner „Aida“? Sollen all die enervierend altbackenen Gesten – heldisches Armerecken, händeringendes Barmen, bösewichtig herabgezogene Mundwinkel, der König mit seinem Prachtmantel flügelschlagend wie eine aufgeregte Saatkrähe – soll all das etwa Ironie sein? Ironie in Hinsicht worauf denn? Doch höchstens auf altbackene Operninszenierungen. Das nennt man Redundanz.

Aber man ist sich sowieso nie sicher, was hier Konzept ist und was Panne. Als Radames‘ von klischeehaft lasziven, langbeinigen Diesseits-Huris zum Heerführer gesalbt werden soll, kommt der Held partout nicht aus den Socken. Ein andermal scheint der König den Rückweg in seinen zuvor abgelegten Königsmantel nicht mehr zu finden. Und auch die Triumphmarsch-Choreographien auf den Tribünen, in denen die Chöre aus emporgehaltenen Klapptafeln Großbilder über die Ränge hinweg herstellen sollen, gehen gründlich in die Hose, trotz befehlend gebellter Kommandos. Neuenfels hilf!, denkt man da. Und wünscht den Fans vom SV Waldhof Mannheim von ganzem Herzen, dass so was im Carl-Benz-Stadion besser klappt. Darauf folgt das hanebüchene Missverständnis, die Begnadigung der äthiopischen Gefangenen zur Refugees-Welcome-Nummer umzumodeln. Diese Gefangenen sind eigentlich wir alle, sie waren mitten unter uns Zuschauern auferstanden und barmen nun auf der Bühne um ihr Leben. Als Radames die Begnadigung erwirkt, tragen die Ägypter plötzlich T-Shirts mit dem Vierfinger-Hand-Emblem, dem Zeichen der ägyptischen Protestbewegung gegen das Militär, und rücken den Äthiopiern mit Care-Beuteln zu Leibe. Und hinten prangt ein Transparent mit dem Schriftzug Ce la faremo. Das hat zwar Angela Merkel eigentlich auf Deutsch gesagt, aber hier sind wir nun mal in Ägypten, und da spricht man halt italienisch.

Das Finale beginnt mit einer wirklich guten Idee. Wenn sich die Gruft über den Liebenden geschlossen hat, tauchen die beiden, erst Radames, dann Aida, unversehens in der rechten Proszeniumsloge auf, wo bereits zwei Notenpulte auf sie warten. Sie sind jetzt nicht mehr die Figuren, sondern nur mehr deren Sänger, der tristen Welt blutdurstiger Staatsraison dorthin entrückt, wo sich die betörende Utopie des Gesangs entfalten kann. Wie schön. Aber leider ist der Vorhang noch offen. Und so sehen wir, wie die Ägypter ihre Oberkleidung zu Boden und bunte Blumensträuße darauf legen, sich zum friedlichen Sit-In versammeln und nach dem Verklingen des letzten utopischen Tones noch einen protestierenden Zischlaut hinterherschicken. So werkelt die Opernregie für den Weltfrieden – durch gut gemeinten Kitsch.

Was schade ist. Denn Alexander Soddy, der erst 33-jährige neue GMD des Nationaltheaters, tut wahrlich viel, um Verdis musikalischer Utopie Geltung zu verleihen. Was an seiner klug disponierten, spannungsvoll zielstrebigen Interpretation vor allem beeindruckte, waren zum einen die vielschichtigen, fein ausgehorchten Orchestersätze, zudem anderen die dramatisch packende Gestaltung der Ensembles. Der Nil allerdings floss im dritten Akt für meinen Geschmack arg schnell, und in den großen Monologen der Aida verloren sich Dirigent und Sängerin ein bisschen zu sehr im schönen Detail – da gingen die übergreifenden Spannungsbögen, die Soddy sonst so geschickt stabilisierte, verloren.

Aber was für eine wunderbare Aida: Miriam Clark legt ihr Rollendebüt (!) sehr lyrisch an, betört mit zartesten Piani und lieblich leuchtendem Timbre und hat doch jederzeit die Reserven für die großen dramatischen Zuspitzungen. Nur in der Nil-Arie ging ihr ein bisschen die Linie verloren, da saß nicht jeder Ton sauber, und mit dem Tremolo dürfte sie vielleicht etwas sparsamer umgehen. In Charakter, Stimmtyp und Sängertemperament ihr komplettes Gegenbild ist Heike Wessels als Amneris. Sie ist eine Furie mit bronzesatter Tiefe und lodernder Höhe. Ein bisschen weniger Forte wäre allerdings manchmal mehr – und sicher besser für ihre bisweilen grelle Mittellage. Rafael Rojas ist ein Heldentenor, wie er im Buche steht: mit viril herbem Timbre, kraftvoller Grandezza, dabei aber wohltuend differenziert in der dynamischen Gestaltung – leider aber auch mit ein paar Manierismen, insbesondere beim ungenauen Anschleifen der Töne, was sich beim „Celeste Aida“ zu einer ziemlich verschwommenen Intonation auswuchs. Auch Jorge Lagunes ist als Amonasro ein Heldenbariton par excellence: sehr idiomatisch, sehr emphatisch, die Stimme sitzt prächtig. Bleiben noch zwei eindrucksvolle Bässe zu nennen: John In Eichen als machtvoll orgelnder König und Sung Ho als Oberpriester von schwarzer Härte. Nikola Hillebrand ist eine bezaubernd klangschöne Tempelsängerin, Pascal Herington ein markanter Bote. Ein weiterer Hauptdarsteller aber ist der dramatisch hochpräsente, musikalisch enorm disziplinierte, von Dani Juris hervorragend einstudierte Chor.

Die Zuschauer feierten die musikalischen Protagonisten begeistert, hatten für das Regieteam aber auch kräftige Buhs parat – wohl kaum, weil ihnen die Inszenierung zu provokativ war. Puhlmanns Vorgänger Klaus-Peter Kehr hat in Mannheim ambitioniert zeitgenössische Regiehandschriften etabliert. Mit seiner Eröffnungspremiere konnte Puhlmann daran noch nicht anknüpfen.