Grenzenlos

Pat To Yan: Posthuman Journey

Theater:Stadttheater Gießen, Premiere:30.09.2022 (UA)Regie:Thomas Krupa

Der Dramatiker und Theatermacher Pat To Yan war in der vergangenen Spielzeit Hausautor am Nationaltheater Mannheim. Dort inszenierte er „Überall im Universum Klang“, den dritten Teil seiner Trilogie „Eine posthumane Geschichte“ selbst; geschrieben sind die Stücke ursprünglich auf Englisch. Nun zeigt das Stadttheater Gießen zum Start der neuen Intendanz von Simone Sterr die Uraufführung der gesamten Trilogie. Und dieser Beginn ist grenzüberschreitend in vielerlei Hinsicht. Mitglieder aus Chor, Orchester und dem Tanzensemble sowie die Sopranistin Julia Araújo agieren nicht neben, sondern mit Schauspielerinnen und Schauspielern in einer knapp vierstündigen Aufführung. Regisseur Thomas Krupa und Stefano Di Buduo (Video und Raum) haben zudem im Theatersaal eine neue Spiellandschaft geschaffen: ohne Sitze im Parkett, mit nahtlos überbrücktem Orchestergraben samt begehbarer Bühne und großen Leinwänden an den Seiten.

Gießener Totaltheater

Zu Beginn, in „Eine kurze Geschichte aus dem künftigen China“ strömt das Publikum also in einen fast leeren, weiten Raum, vermischt sich mit dem neunköpfigen Ensemble. Auf den Leinwänden sind farblich verfremdete Bilder von Stadtautobahnen (in Hongkong) zu sehen, dann wendet sich „Der Außenstehende“ (Davíd Gavíria) an Einzelne und fragt nach Orientierung, er will eine Kiste in den Norden, die Hauptstadt bringen, ist aber desorientiert. Auf seiner seltsamen Reise trifft er auf Gestalten wie „Die weiße Knochenfrau“ (Mirjam Rast), „Die Katze mit einem Loch“ (Carolin Weber) oder eine Antigone, die ihren Bruder betrauert, der unter ungeklärten Umständen bei Studentenprotesten ums Leben kam. Julia Araújo singt als eine Antigone-Darstellerin eine herzzerreißende, schmerzvolle Arie. Dann geht es wieder ums eine ehemalige Musicaldarstellerin (Trang Dông), die nicht mehr an die kurzeitige Erheiterung durch die leichte Muse glaubt, und ihren blinden Partner, ehemals Dichter, dann Richter, nun Wahrsager. Die Reise des im Zentrum stehenden Außenseiters führt durch ein zerfallendes Reich.

Das Stück ist also eine gewagte, überbordende Mischung verschiedenster Figuren und Motive und dabei auch eine kaum verhohlene – dystopische ? – Beschreibung des chinesischen Staats. Manche Motive wie die Knochenfrau, die sich in Spinne, Affen oder Menschen verwandeln kann, mag im chinesischen Kulturkreis eine weniger gewagte Metamorphose darstellen als in Europa. Und doch sind die Ängste vor Identitätsverlust, vor repressiver Gewalt oder vor einem Ineinanderfließen der Zeiten uns sehr vertraut. Die globale Sprache des Textes kann leicht zu Überforderungen und Missverständnissen führen, das Stück beim Lesen als überfrachtet erscheinen. Die Bilder und Konstellationen und die nur ungefähr entzifferbare Geschichte öffnen viele Deutungsfelder und mögen auch ein Mittel der Chiffrierung von Kunst in einer Diktatur sein.

Lebendige Künstlichkeit

Thomas Krupas Inszenierung begegnet den zugleich offenen wie kryptischen Texte mit einer Mischung aus Spielfreude und artifiziellem Zugriff. Die Opernsängerin ist ebenso Teil des Geschehens wie tänzerische Gruppen oder das kleine Streichorchester. Besonders im zweiten Teil, „Eine posthumane Geschichte“, erreicht die Inszenierung wundersamerweise durch Kunstgriffe eine Erdung des Geschehens. Nun ist das Spiel auf den Bühnenraum begrenzt; die Stimmen des Drohnenpiloten Frank (Christian Zacharas alias Robozee) und seiner Frau (Mirjam Rast) werden vom Rand eingesprochen (Pascal Thomas bzw. Trang Dong). Und das funktioniert nicht nur bemerkenswert präzise, sondern ermöglicht auch ein lebendiges Spiel – bei aller formalen Künstlichkeit. Frank zerstört vom heimischen Computer aus in einem fernen Kriegsgebiet Gebäude und Menschen, seine Frau Jane arbeitet eine Zeit lang über eine KI-Firma dem Diktator des Landes zu: Er erhält die idealen „Geschichten“, mit denen er sein Volk manipulieren kann. Das gemeinsame, behinderte Kind wird durch eine digitale Po-Prothese zum Cyborg.

Im dritten Teil schließlich sitzt das auf etwa 200 Personen reduzierte Publikum auf der Bühne und blickt in den weiten Raum von Parkett und Rängen. In „Überall im Universum Klang“ sind wir in einer fernen Zukunft angekommen, die sich nur noch vage an die Erde erinnern kann und in der sich durch Zeitreisen und schwarze Löcher die Planeten und Identitäten der Bewohner verändern. Nur der Drang zur Herrschaft durch geistig-emotionale Überlegenheit (alias das geschickte story-telling) ist gleich geblieben. Hier stockt zuweilen das Tempo, auch wenn weiterhin durch kurze musikalische Zwischenszenen die Geschichte um den Zeitreisenden „T“ (David Gavíria) strukturiert wird, auch ist der Blick von den Stuhlreihen ins teils niedrigere Spielparkett nicht ideal. Doch auch hier macht der ambitionierte Start Lust auf mehr. Die Relevanz dieses wie der anderen beiden Texte ist bei aller Fremdheit schlagend. Und die Inszenierung ist nicht nur ein mutiges Statement für ein im Haus wie in die Stadt hinein grenzüberschreitendes Theater. Das lustvoll spielende und gut abgestimmte Ensemble zeigt, dass ein offenes Theater die Krisen unserer Welt in einem neuen Licht spiegeln kann.