Szene aus "[Blank]"

Gewalt, und nichts als Gewalt

Alice Birch: [Blank]

Theater:Badisches Staatstheater Karlsruhe, Premiere:05.02.2022 (DSE)Regie:Anna Bergmann

Ein Mann vergewaltigt ein junges Mädchen. Das junge Mädchen wird schwanger. Die Mutter des jungen Mädchens tötet den Mann. Anderer Fall: Eine Frau trinkt und vernachlässigt ihr Kind. Anderer Fall: Wieder ein junges Mädchen verschwindet. Es wird von einer Psychopathin entführt. Sie selbst verlor ihr Kind. Das junge Mädchen wird sterben. Die Mutter des jungen Mädchens wird sich umbringen. Und so weiter, und so weiter… – die Welt, die Alice Birch in ihrem markerschütternden, neuen Stück skizziert, ist ganz dem Titel gemäß einzig und allein „[Blank]“. Nichts mehr beschönigt das Grauen inmitten der menschlichen Gesellschaft, nichts mehr täuscht über den Sündenpfuhl von Drogen und Alkohol hinweg. Es gibt nur eine endlose Spirale der Gewalt gegen Frauen und Kinder.

Wohl auch deswegen mag sich Anna Bergmann für die deutschsprachige Erstaufführung am Badischen Staatstheater Karlsruhe für eine Rondellbühne entschieden haben. Während der knapp hundert Szenen drehen die Schauspielerinnen und Schauspieler die Umrisse eines Betonhauses, immer und immer wieder, als gäbe aus dieser ganzen verkommenen Malaise keinen Ausweg. Dass den Zimmern des mehrstöckigen Gebäudes die Wände fehlen, hat gewiss einen Grund: Wo derartig brachiale Verhältnisse herrschen, schützen auch keine falschen Fassaden mehr vor fremden Blicken. Alles ist entblößt. Und so wie die Interieurs ineinander übergehen, so sind bei dieser Kultur der Übergriffe längst sämtliche Grenzen zwischen den Menschen eingerissen.

Kurzum: Depressiver, verzweifelter könnte die Szenerie kaum ausfallen. Lediglich eine Reklametafel auf dem Dach sorgt mit Werbeschildern in 50er- und 60er-Jahre-Anmutung hier und da für bitterböse Ironie. Mal wird die Beinfreiheit in einer bestimmten Automarke mit „Spread your legs“ betont, mal die neuste Bulette bei Burger King vor einem sichtlich lusterfüllten Damengesicht mit dem Spruch „It’ll blow your mind away“ präsentiert. Da also die spätmoderne Gesellschaft offenbar insgesamt von patriarchalen Zeichen und Machtgebaren durchdrungen ist, überrascht auch ein tragisches Ende dieses ersten Teils des Abends nicht.

Vielfalt der Gewalt

In theatralischer Hinsicht wäre dieser Ausklang ein wenig ungenügend gewesen, zumal die Schwermut, übrigens wunderbar befördert durch Song-Intermezzi von Frida Österberg, bislang die einzige Dominante dargestellt hat. Aber es kommt ganz anders: Mit einer regelrechten Farce überrascht die Regie das Publikum. Eingeladen sind wir nun mehr zu einem Dinner in einem großbürgerlichen Kreis (u.a. Bayan Laylan, Jannek Petri, Sarah Sandeh) aus Direktoren, Rechtsanwältinnen und Schauspielerinnen. Fast alle sind nackt, bis auf eine Lehrerin, die den dekadenten Clan gehörig aufwirbelt.

Während sich die Reichen frisch bestelltes Kocks reinziehen und ein gestürzter Fahrradkurier, der zuvor noch den Wein brachte, am Bühnenrand vor sich hinkrebst, fällt sie mit provokativen Fragen auf. Was steckt zum Beispiel hinter #Metoo, zu dem eine der Anwesenden angeblich einen hochwertigen Film „aus Frauenperspektive“ gedreht haben will? So richtige Antworten erhält sie nicht. Stattdessen wird gegessen, getrunken, eine Träne über den Klimawandel vergossen. Man suhlt sich vor goldenem Vorhang und entlang einer auf das Läuterungsgemälde „Das letzte Abendmahl“ anspielenden Tafel in selbstgefälliger Gutmenschen-Attitüde, bis dann die Pädagogin (Frida Österberg) die heuchlerische Chose radikal entlarvt. Die Nacktheit der Salongemeinschaft bleibt, ganz im Sinne des Märchens „Des Kaisers neue Kleider“, eben auch Nacktheit, selbst wenn sie mit dem Gusto der Noblesse und des Exklusiven verkauft wird.

Kommt im ersten Teil die Gewalt in simpelster, wildester Form zum Ausdruck, wirkt sie im zweiten weitaus subtiler. Nun offenbart sie sich in der Ignoranz und der Abschottung gegenüber all jenen, die unter prekären Bedingungen leben. Klassen- und Missbrauchsdrama, Sozialstudie und Trauerspiel, perverse Komik und eine emotionale Wucht, die beklommen stimmt. All dies führt Anna Bergmanns fantastischer Inszenierung eng, die sich von der ersten bis zur letzten Minute ihre existenzielle Dichte bewahrt. Dass wir es dabei mit einer Zumutung im buchstäblichen Sinne zu tun haben, liegt schon allein in der Natur der Sache: dem schwierigen Thema. Aber sie lohnt sich, vor allem wegen ihrer Intensität.