"La Dori" mit einem hervorragenden Ensemble.

Gender-Piraterie

Pietro Antonio Cesti: La Dori, overo Lo schiavo reggio

Theater:Innsbrucker Festwochen der Alten Musik, Premiere:24.08.2019Regie:Stefano VizioliMusikalische Leitung:Ottavio Dantone

Diese Karnevalskomödie erweist sich als Heidenspaß. Schon deshalb ist es unverständlich, dass die Oper des „Hauskomponisten“ Pietro Antonio Cesti (1623-1669) erst bei den 43. Innsbrucker Festwochen der Alten Musik als Hommage zu dessen 350. Todestag herauskommt. In jüngerer Zeit gelangte „La Dori“ bisher nur in London (1983), New York (1990) und Arezzo (1999) zur Aufführung. Dabei wurde „La Dori“ nach der Uraufführung im Innsbrucker Hoftheater 1657 eine der erfolgreichsten Opern des 17. Jahrhunderts. Bekannt sind die enorme Zahl von 30 Produktionen und 27 Libretto-Ausgaben. Auf die Aufführung eines der 14 dokumentierten Prologe zu dieser Oper verzichtete man im Großen Haus des Tiroler Landestheaters allerdings: Nach drei kurzweiligen Stunden beendete lautstarker und einhelliger Jubel die Premiere der Innsbrucker Erstfassung.

Sexuelle Übergriffe machen hier nicht nur Ärger, sondern auch Spaß. Mit erlesenen Bildern und musikalisch formvollendet wird dieses starke Werk präsentiert wie in einem italienischen Kinderbuch: Sogar das Groteske ist immer elegant. So anstrengend wie die Lektüre der Inhaltsangabe auf vier eng bedruckten Seiten waren die Verständnisbarrieren der im Programmheft als „etwas abgedroschen“ kategorisierten Handlung zum Glück nicht. Babylonisch sind der Schauplatz und auch das Beziehungsgeflecht für 10 Sängerinnen und Sänger. Am Ende kriegen sich die Richtigen. Die nikäische Königstochter Dori heiratet ihren persischen Prinzen Oronte, der ägyptische Prinz Tolomeo bekommt Doris Schwester Arsinoe. Sand knirscht im Kommunikationsgetriebe, weil Dori ihrer Schwester nicht deren vorbestimmten Bräutigam wegnehmen will und deshalb an schweren inneren Konflikten leidet. Dori, die als persische und ägyptische Prinzessin quasi zwei Identitäten hat, tritt nach einer abenteuerlichen Akkumulation von Katastrophen als Sklave Alì auf, der in Arsinoe verliebte Tolomeo dagegen als attraktive Dame Celinda. Diese Oper macht nebenbei deutlich, woher die Volkstheater des Inntals mit einer Zeitverzögerung von 100 Jahren ihre von Kruditäten strotzenden Stoffe nahmen. Überdies ist „La Dori“ zufällig auch das luxuriöse Rahmenprogramm-Sahnefilet zur diesjährigen Sonderausstellung „Piraten und Sklaven im Mittelmeer“ auf Schloss Ambras.

Haushohe Gefühlswogen schlagen bei Cesti über den Palästen des Zweistromlandes, ihren Eigentümern und dem gewaltsam verschleppten Dienstpersonal zusammen. Albert Gier brachte die erotischen Wortwechsel aus Giovanni Filippo Apollonis Libretto gewitzt in die deutsche Übertitel-Passform. Mehrwert gewinnt das aus Motiven der frühbarocken Epik zusammengemischte Sujet durch Cestis großartige Musik. Diese charakterisiert in kurzen Arien, wenigen Ensembles und einer gestisch überaus flexiblen Instrumentation alle Figuren und Situationen auch für heutige Ohren plausibel. Leicht unkonzentriert ist nur der Beginn des von Ottavio Dantone und seinem Assistenten Andrea Marchiol mit dem ganzen Ensemble hochklassig vorbereiteten und gestalteten Abends. Da stimmen neben den Balancen der ausgezeichneten Accademia Bizantina um Konzertmeister Alessandro Tampieri mit den aparten Farben von Erzlaute, Theorbe, Tripelharfe zu den Sängerstimmen auch alle weiteren musikdramatischen Parameter: kompetente Deklamation, sensible Textbehandlung, Feinschliff der sängerischen und motorischen Interaktion.

Und die Inszenierung? Anders als Sigrid T’Hoofts mechanische Eins-zu-Eins-Imitation barocker Szenentechniken in Ricardo Broschis „Merope“, der ersten Produktion der Innsbrucker Festwochen, erfanden Stefano Vizioli und sein Bühnenbildner Emanuele Sinisi eine Phantasie mit frühbarocken Signaturen wie aus einem italienischen Märchen. Neben sandfarbenen Hügeln, auf denen Dori betäubt vom Schlummermittel sanft darnieder sinkt, stehen zwei mit unruhigen Meereswogen bemalte Wände, die sich zum Finale wie Drehkulissen zu einer arkadischen Blütenlandschaft wenden. Immer wieder erlebt man, etwa beim Blick des Königs Artaserse (Federico Sacchi) auf einen Totenschädel, Déjà-Vus zu Gemälden und Porträts der Cesti-Zeit. Als mannstolle Vettel Dirce mixt der tenoral wie szenisch geschmackssichere Alberto Allegrezza Liebe barocke Gestik und die Giftküchen-Magie von Schneewittchens böser Stiefmutter. Der Countertenor Rupert Enticknap spielt als Oronte burlesk wie hintergründig alle Schatten von Liebesemphase, Tollpatschigkeit und Cholerik. Andere trauen sich nicht so recht an die von Cesti und Apolloni mit Lust aufgetürmten Gender-Späße. Schade, dass Emöke Baráth (Tolomeo), die als Frau einen Mann in Frauenkleidern verkörpert, mit denkbar schönster Stimme zwischen Schleier und Degen recht neutral bleibt. Sehr poetisch, ein wenig larmoyant und manchmal ironisch ist diese Produktion, etwa wenn Orontes Krone geräuschlos zu Boden fällt und damit theatraler Schein triumphiert. Leiden und Freuden strömen im Gleichmaß aus dem Alt von Francesca Ascioti, egal ob sie gerade Sklave Alì oder „echte“ Prinzessin Dori ist. Toxische Männlichkeit und Softie-Gehabe sind kein Widerspruch bei Sympathieträger Rocco Cavalluzzi, der als Golo mehr den Charmebolzen als den Narren herauskehrt. Von Anfang bis Ende gibt es mit ganz wenigen Ausnahmen nur schöne Seelen und schöne Stimmen in noch schöner ornamentierten Kostümen von Anna Maria Heinreich. Francesca Lombardi Mazzulli (Arsinoe), Pietro Di Bianco (Erasto), Bradley Smith (Ardete) und der als Chef-Eunuch Bagoa mehr elegant als drastisch polternde Konstantin Derri fügen sich mit Stimme und Spiel höchst erlesen ein: Jeder Atem und jede Phrase sitzen, die Gesten sind aber oft wie Granatschmuck unter feiner, doch leicht angegrauter Seide.

Insgesamt also eine sehr italienische Sicht auf diese für das erste Opernhaus nördlich der Alpen komponierte Oper, zu dem es von dem aus dem Süden angereisten Publikumsgruppen die meisten Lacher gab. Die Produktion hatte mehr Noblesse als Britpop-Frechheit. So wird „Die glückhafte leibeigene Dienerin“ zur Cross-Dress-Piraterie für die ganze Familie.