Foto: Das Ensemble bei „Freedom Collective“. © Sascha Kreklau
Text:Jens Fischer, am 11. Februar 2024
Am Musiktheater im Revier geht es auf die Suche nach längst verlorenen Gefühlen. „Freedom Collective“ zeigt eine Flucht ins Gaming und in die Drogensucht. Der Abend beeindruckt mit musikalisch genreübergreifender Gesangsperformance, aber die multimediale Reizüberflutung kreiert ein undurchdringliches Experiment.
Das Nachtleben als Eskalation des Alltags fokussiert Aleksandar Hut Kono in seinem Libretto „Freedom Collective“. In diesem Club einer wirklichkeitsnahen Dystopie gehen Besucher:innen auf Sinnsuche, indem sie das verloren gegangene Gefühl für den Körper mit Brachialgewalt wiederzufinden hoffen. Sie schütten sich mit Drogen zu, baden im Adrenalinrausch von Tanzexzessen – beides dargestellt von einem Bewegungschor – oder geben sich brutalen Kämpfen hin. Alles geschieht wohl aus einer anarchistisch gemeinten Sehnsucht heraus, den Zivilisationsbruch als Widerstand gegen herrschende Moral und Konventionen zu feiern. Selbstzerstörung als letzte Möglichkeit, sich lebendig zu fühlen. Perfider Weise aber regieren auch in diesem Setting eine ominöse Staatsmacht sowie das Selbstoptimierungsprinzip, die Ökonomisierung und der Verdrängungswettbewerb des Kapitalismus. Zählt bei den Kämpfen doch nur das Gewinnen, was auch den Umsatz der dabei eingesetzten Dopingmitteln und verkauften Drogen erhöht.
Scheinfreiheit
Zwei Täter/Opfer dieser Gemengelage lässt Regisseur:in Heinrich Horwitz tastend ins Foyer des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier (MiR) taumeln. Wo sie das Ende der Geschichte andeuten. Dann wird dem Publikum Einlass in den finsteren Ort simulierter Freiheit gewährt, der von Lichtsäulen geschmückt ist (Ausstattung: Magdalena Emmerig). Auf der Bühne sitzen die Musiker:innen der Neuen Philharmonie Westfalen (Musikalische Leitung: Premil Petrović). Die Besucher:innen flottieren frei im Raum. Vier Podien sind darin verteilt, Docking-Stations der Protagonist:innen, die ihre Rollen als Gamer vor einem Touchscreen oder mit einem Controller spielen, während auf Leinwänden eingefrorene Bilder ihrer Avatare mit rasanten Kamerafahrten in leeren Räumen wie Skulpturen inszeniert werden.
Nayun Lea Kim auf ihrem Gamingpodest vor ihrem Avatar. Foto: Sascha Kreklau
Aber nicht nur der Chor wandert in direkter Konfrontation durchs Publikum, auch mal bedrohlich mit Baseball-Schlägern im Anschlag, mehrfach verlassen auch Fighter Andrei (Bele Kumberger), Trainer Karl (Yancheng Chen), Medizinerin Zsuzsi (Soyoon Lee) und Drogenexpertin Fan (Nayun Lea Kim) ihre Gamer-Position, mischen sich unter die Zuschauenden, wobei sich die Ausdruckskraft ihrer dramatischen wie lyrischen Passagen in geradezu klassisch opernhaften Duetten und Ensembles betörend unmittelbar vermittelt. Eine beeindruckende Gesangsperformance!
Zusätzliches Medium
Kreateur:innen von Neue-Musik-Aufführungen denken heutzutage mehr in Medien denn in Tönen und Klängen. So kommt auch am MiR noch eine weitere Ebene hinzu. Wer einen QR-Code eingescannt hat, kann sich „connected“ mit der Aufführung fühlen. Wenn dieses Stichwort aufleuchtet, holen viele ihr Handy aus der Tasche. Die einen sehen nichts, weil die Technik nicht funktioniert. Anderen werden nur schemenhaft aufleuchtenden Figurinen gezeigt, die fix wieder verschwinden. Wieder andere können Videos und Chats sehen sowie fiepende Signaltöne in den Raum schallen lassen. Letztlich überflüssige Gimmicks. Weswegen nicht wenige darauf verzichten. „Wir haben doch schon den ganzen Tag das Handy vorm Gesicht, da will ich doch nicht in der Oper auch noch aufs Display starren“, sagte ein Besucher. Während andere begeistert sind, auch im Theater mit ihrem Handy spielen zu dürfen.
Da liegt das Problem der Uraufführung. Video, Schauspiel, englischer, kaum verständlicher Gesang, deutsche Übertitelung, das immersive Cluberlebnis und dann auch noch Infos auf dem mobilen Endgerät, da erwächst keine Konzentration auf die Musik: eine vielschichtig verästelte, aus geräuschhaft amalgamierten Klangesten collagierte und mit elektronischen Zuspielungen garnierte Komposition von Davor Vincze. Das Werk hat in einer Kurzversion bereits unter dem Titel „XinSheng“ den 2. Preis beim Kompositionswettbewerb der Landeshauptstadt Stuttgart 2022 gewonnen und wurde nun für die „NOperas!“-Serie des Fonds Experimentelles Musiktheater weiterentwickelt. In der jetzigen Version ist der Wille deutlich, aller Abstraktion zum Trotz aufgeregt geheimnisvolle Club-Atmosphäre, in der das Verbotene dräut, zu vermitteln mit unberechenbar harschen Brüchen, scharfen Kontrasten, Wirbeln und in sich zusammenbrechenden Konvulsionen.
Höhepunkt Rave
Plötzlich aber verstummen die Live-Musikanten, das komplexe Rhythmusgeflecht kulminiert in einem fulminanten Beat, dazu wird eine Disco-Lightshow serviert. Es ist Samstagabend, das Publikum entspannt sich, wirkt wie befreit nach all den Mixed-Reality-Setzungen, beginnt mit den Füßen zu wippen, zu tanzen. Ein Rave, viele Minuten lang. Toll! Auch wenn dazu ganz wichtige Fragen eingeblendet werden wie „Who are you?“ Denn neben der angedeuteten Gesellschaftskritik geht es auch noch um non-binär gedachte Geschlechteridentität, das Nachdenken über Leben und Tod sowie eine aus dem Zudröhnen, Wegdriften, Aufputschen und Bewusstlosprügeln erlösende Liebe – „im Sinne einer queeren Theorie alternativer Gemeinschaftsformen“, wie im Programmflyer steht. Weswegen dann wohl auch die Kämpfe in zweideutigen Umarmungen münden. Während die Musik aggressiv aufwallt und eine Headbangerin an der Rampe nicht zu stoppen ist.
Aus dem Programmflyer muss leider zitiert werden, denn Handlung und Themen sind jeweils nur ein Element des Abends, sie verlieren sich in dem multimedialen Overkill und den immer wieder veränderten Spielmodi. Die Inhalte sind von der Regie nicht klar herausgearbeitet, die Figuren nicht einfühlsam entwickelt. Wer was warum wie singt ist kaum nachvollziehbar. „Freedom Collective“ bleibt ein Experiment, Musiktheater, Digitalität und Partykultur zu verschränken. Ein Experiment, das reizvoll überfordert. Das als Work in progress an den weiteren „NOperas!“-Spielorten – Theater Bremen und Staatstheater Darmstadt – aber noch deutlich an Überzeugungskraft gewinnen kann. Buhlose Zustimmung gab es in Gelsenkirchen für das personenreiche Team.