"Spuren der Verirrten" am Landestheater Linz

Gegen den Untergang des Theaters mit Jubelchor

Philipp Glass: Spuren der Verirrten

Theater:Landestheater Linz, Premiere:12.04.2013Autor(in) der Vorlage:Peter HandkeRegie:David PountneyMusikalische Leitung:Dennis Russell Davies

Mutig eröffnete Linz seinen neuen Kulturkoloss, das Musiktheater am Volksgarten, mit der Uraufführung von Philip Glass‘ „Spuren der Verirrten“ nach Peter Handkes gleichnamigem Stück von 2006, eingerichtet vom Intendanten des Landestheaters Rainer Mennicken. Das Risiko der Ablehnung war überschaubar, hat doch Dennis Russell Davies als Opernchef und Chefdirigent des Bruckner- Orchesters seit 2002 den Linzern den ohnehin nicht sonderlich dissonant modernistischen amerikanischen Minimalisten nahe gebracht. Jüngst hob er im Bruckner-Haus an der Donau dessen 9. Sinfonie aus der Taufe, nimmt regelmäßig andere Konzertstücke ins Programm und am Theater die Opern, zuletzt „Voices“ und als Auftragswerk zum Linzer Kulturhauptstadtjahr 2009 „Kepler“ – der Astronom lebte und forschte in Linz – wovon viele noch heute schwärmen. Schließlich wählte Ballettdirektor Jochen Ulrich (gestorben im November 2012) Film- und Klaviermusik von Glass für sein Ballett „Campo amor“, das in der Neufassung für die große Bühne gestern Premiere hatte. Die Rechnung ging auf: nur eine verschwindend kleine Anzahl der geladenen Premierengäste schlich sich in der Pause von „Spuren der Verirrten“ davon. Nur Sekundenbruchteile vergingen am Ende, bevor das Publikum das über 200-köpfige Bühnenheer stürmisch feierte.

Handkes surreal abstraktes Endzeit-Szenario aus Gedankensplittern und Momentaufnahmen von der Lebensspur abdriftender, namenloser Menschen hat Mennicken zum Vehikel eines Abgesangs auf das Theater umfunktioniert. Aber, wie im Märchen, mit Happy End: dem Lamento der Verirrten „Wo sind wir?“ und „Wenn doch immer Advent wär‘ und Weihnachten nie!“ und „Die Zeit hat ausgespielt“ setzt „Der Zuschauer“ (Schauspieler Lutz Zeidler) resolut ein Ende: „Schluss mit dem tragischen Gehabe! Auf der Bühne herrscht eine andere Zeit – die Spielzeit.“ Da ist der mit Schutzanzug und Gasmaske vermummte Weltenbrandlöscher („Der Protagonist“: Schauspieler Peter Pertusini) längst im Souffleurkasten verendet und „Der Dritte“ (die fabelhafte Mezzosopranistin Christa Ratzenböck) – Publikumsbeschimpfer und Propagandist – samt Rednersockel in der Versenkung verschwunden. Auf die Bühne strömen sie nun aus dem Orchestergraben und aus allen Kulissengängen. Ein Ende hat das babylonische Sprachenwirrwarr der überlebenden Theaterleute. Aus den Klageliedern für einen sterbenden Helden wächst ein Jubelchor zur Weihe des Hauses jenseits Beethovenschen Pathos‘, statt „Freude schöner Götterfunke“ trällern alle „la – la – la“.

Entstanden ist ein vitales, zauberhaftes Gesamtkunstwerk aller Theatersparten in der ungemein detailreichen Regie von David Pountney mit Unterstützung des vielseitigen Choreografen Amir Hosseinpour. Anne Marie Legenstein entwarf über 300 Kostüme. Robert Israel führt die reibungs- und lautlos funktionierenden technischen Möglichkeiten des Spielraums mit zwei Drehbühnen vor. Die Akustik ist vorzüglich. Banalität und Poesie gehen eine Allianz ein, die an Theatralik ihres gleichen sucht – zumal im Finale.

Da bevölkern über 200 Sänger, Schauspieler, Tänzer, Laien und Musiker die riesige Bühne und den hochgefahrenen Orchestergraben. Ein prachtvolles Bild entfaltet sich – ein Farbenspiel mit Lichtkaskaden und Strahlenbündeln, gespiegelt auf metallisch gleißenden Wänden. Die Drehbühnen kreisen und fahren einen Wust an Möbeln und Menschen auf. Im Tohuwabohu der Endzeittristesse reihen sich Kinder in Lederhosen und orangen Hemden und Schauspieler als mythische Gestalten von Medea bis Ödipus auf, bayerisches Volk in Dirndl oder mit Alphorn. Tänzerinnen schmeißen als feuerrote Variete?-Truppe Beine und Po. Das Bruckner-Orchester streicht und bläst das Finale auf der Bu?hne in schrillem Karnevalsputz; Dirigent Dennis Russell Davies bedeckt den kahlen Kopf mit einem goldenem Pappkrönchen. Im Graben räkeln sich derweil auf den grün gepolsterten Musikerstühlen Choristen und Statisten. Opernfiguren wie die Rosenkavalier-Marschallin mit ihrem Kavalier Octavian und Salome posieren zwischen Trauernden, Kriegsopfern, Krankenschwestern – und (freundlichen Oster-) Hasen. Christoph Schlingensiefs Bayreuther „Parsifal“ lässt vielmals grüßen. Allerdings hat Pountneys Inszene weit mehr fröhlichen Unterhaltungswert.

Mit einem gewaltigen Pauken-Crescendo endet Glass‘ neue Oper – eine überraschend poetische, feingliedrige, hauchzarte, Klangfarben reiche und gelegentlich auch witzige Partitur mit selten lauten, oftmals melodiösen Lyrismen ohne den typischen endlosen eindimensional minimalistischen Klangteppich. Die kurzen „Sätze“ entsprechen Handkes kleinen Episoden und Dialogfetzen. Harsche Dissonanzen, Provokation und Irritation blieben außen vor bei diesem Balanceakt, genau 210 Jahre nach Eröffnung des ersten Theaters in der (späteren) oberösterreichischen Industriestadt eine weitere Spur zu legen in Richtung Vision einer zeitgemäßen Stadt der Arbeit und Kultur.

Die Festwoche mit sieben Premieren begann bereits am Abend vor der Glass-Uraufführung. Kaum war die Direktübertragung der festlichen Theatereröffnung in den Volksgarten beendet, hob auf dem Theatervorplatz der einstündige „Parzival“-Verschnitt (mit Musikausschnitten aus Lautsprechern) der katalanischen Straßentheatergruppe El Fura dels Baus an: eine Metallkonstruktion, an der 40 wagemutige Linzer baumelten, schwebten aus 30 Meter hohe Höhe wie ein Ufo ein. Die Laienartisten formten schwebend artistische Muster, während die spanischen Theaterleute den zehn Meter hohen Luftballon-Helden über den Platz wandeln ließen, ihm winzige Klingsor- und Amfortas-Marionetten auf die Schulter oder aufs Theaterdach setzten. Kundry sandte ihren Urschrei aus einem Berg Kanonenkugeln durch die Nacht. Flammen schossen auf aus Klingsors Zaubergarten und die Enthüllung des Grals versank in einem Feuerwerk. Dicht gedrängt unter den uralten Gingko-Bäumen des Volksgartens verfolgten viele hundert Linzer das Spektakel an drei Abenden. Der Auftakt zum „Theater für alle“ jedenfalls gelang vollauf. Die Deutsche Bühne berichtet in ihrem Juni-Heft ausführlich über das neue Haus.