Foto: Im Todestrakt: Joseph de Rocher (Andrew Finden), Sister Helen (Danielle Rohr) und ein Gefängniswärter (Kabelo Lebyana) © Matthias Baus für das Theater Koblenz
Text:Andreas Falentin, am 16. Januar 2022
„Dead Man Walking“ bezeichnet in den USA den Zustand eines zum Tode verurteilten Verbrechers nach der Festlegung des Zeitpunkts seiner Hinrichtung. In der 2000 in San Francisco uraufgeführten Oper von Jake Heggie, nach dem 1993 erschienen, eigene Erlebnisse verarbeitenden Buch der Ordensschwester Helen Prejean, besteht von Anfang an kein Zweifel an der Schuld des Verurteilten.Anders als in der prominenten Verfilmung aus dem Jahr 1995 wird das Verbrechen, die gemeinschaftlich mit seinem Bruder begangene Ermordung eines jungen Paares nach bestialischer Vergewaltigung der Frau, in der Oper in Form eines Prologes gezeigt, in Koblenz in Form eines klar erzählten, unangenehmen aber nicht geschmacklosen Filmes. Es sei ihm und seinem Librettisten Terrence McNally in erster Linie um eine menschliche „Reise“ der beiden Protagonisten gegangen, äußert Heggie im Programmheft der Koblenzer Produktion, um die Entwicklung die Sister Helen, die eigentlich nur geistlichen Beistand leisten will und der zum Tod verurteilte Joseph de Rocher von ihrer ersten Begegnung an durchlaufen.
Studie der Überforderung
Der Regie führende Intendant Markus Dietze zeigt diese Reise eher nebenbei. Ihm geht es in erster Linie um die psychische Überforderung nahezu sämtlicher Figuren. Die Eltern des toten Paares können nicht loslassen; Josephs Mutter kann nicht glauben, was ihr Sohn getan hat; Joseph selbst kann sich nicht zu seiner Schuld bekennen; Helen will ihn dazu bringen, dies zu tun und kann ihm doch lange nicht vergeben. Alle sind gefangen im Stellen der immer gleichen Frage, in einem Käfig von Schuld, Sühne und Moral, der Leere entstehen lässt, in der die Figuren verloren zu gehen drohen. Erst de Rochers Geständnis auf der Sterbeliege öffnet diesen Käfig.
Dietze gelingt diese stimmige Akzentuierung durch seine so behutsame wie konzentrierte Personenführung. Hier läuft alles organisch, aber nichts kleinteilig realistisch ab – abgesehen von den Mechaniken des Todestrakts und der Hinrichtung, die so durchaus als Fanal gegen die Todesstrafe gelesen werden können. Christian Binz hat einen schlichten Raum mit grauen Wänden erfunden, die fast bis ins Publikum reichen. Gelegentlich wird an der Rückwand eine Galerie vor schwarzem Hintergrund sichtbar. Vor allem durch das formidable Licht von Julia Kaindl entstehen Spielräume in diesem tristen Setting.
Virtuose Holzbläsereinsätze, wucherndes Unkraut
Die Konzentration des Spiels öffnet die Ohren für Heggies Musik, die nicht neu oder unerhört tönt, aber Eigenständigkeit besitzt. Obwohl das Staatsorchester Rheinische Philharmonie auf die Hinterbühne „verbannt“ ist, ist es einer der Stars des Abends. Karsten Huschke lässt überaus delikat musizieren. Man hört die Virtuosität der solistischen Holzbläsereinsätze und die Eigenheiten dieser Musik und die unzähligen, manchmal absurd anmutenden kreuz-und-quer-Verbindungen, die an diesem Abend wie Unkraut in die beschriebene Leere hineinzuwuchern scheinen. Linien inspiriert von und Anspielungen an Jazz, Gospel und Rock’n Roll tauchen aus dieser Musik auf und verschwinden wieder in ihr. Die beiden großen Ensembleszenen mit Chor, der Zusammenbruch Helens vor der Pause und das „Vater unser“ vor der Hinrichtung entfalten eine geradezu chaotische Klangwucht, kreiseln wild um sich selbst und ziehen doch die Schlinge zu, werden geradezu zum Sinnbild für die inszenierte Leere.
Was wiederum damit zu tun hat, dass die Sängerinnen und Sänger die Leidenschaft und Lebendigkeit mitbringen, auf die Dietzes Inszenierungsansatz angewiesen ist. Mit schlankem, individuell timbrierten Mezzo und großer Ausstrahlung ist Danielle Rohr eine stücktragende Helen. Andrew Finden gibt den Mörder mit fest gefügtem, aber nicht unflexiblem Bariton und großer physischer Verdrängung. Monica Mascus spielt und singt die Hilflosigkeit der Mutter rückhaltlos aus. Alle Nebenrollen sind stimmig oder, wie Helens Freundin Rose mit Hana Lee oder der Vater der toten jungen Frau mit James Bobby, außergewöhnlich besetzt.
Der dem Stück oft unterstellte Kitschverdacht erweist sich in Koblenz als vollkommen unbegründet. Im kleinen und gut gefüllten Koblenzer Theater hört und sieht man tatsächlich große Oper für das 21. Jahrhundert.