Szene aus "Unbändig"

Gefühlsdruck in Luftschläuchen

Grete Pagan & Ensemble: Unbändig

Theater:Junges Ensemble Stuttgart, Premiere:04.12.2021 (UA)Regie:Grete Pagan

Es soll um Gefühle gehen und dann das: Auf der Bühne des Jungen Ensembles Stuttgart ragt ein riesiges Gerüst aus Lüftungsrohren und kleinen Trafostationen, sowohl am Boden schlängelnd, wie auch in der Höhe schwebend. Wie soll das zusammen gehen: Gefühle und Lüftungstechnik, wenn denn auch an der Schalttafel kleine grüne Lichter aufleuchten, irgendwann auch einmal die Warnleuchte aufblinkt und dazu eine Sirene heult? Lässt es die Exaktheit, die es zur Kontrolle der Leitungen braucht, überhaupt zu, Gefühle zu entwickeln? Es gibt in dieser von Lena Hinz geschaffenen Szenerie auch irritierende Momente, denn in ihr sind sichtbar Gitarre, Kontrabass, Klarinette, kleines Schlagbecken und Akkordeon versteckt.

In diesem von der Technik geprägtem Raum werkeln eine Performerin und drei Performer. Sie überprüfen die Rohre, kennen die Schwachstellen und tauschen sich aus – auf Englisch, Türkisch und Deutsch. Aber kein babylonisches Sprachengewirr entsteht, sondern – wie auf anderen Baustelle auch – jeder versteht in diesen Funktionszusammenhängen jeden. Die Vier haben in ihren Arbeitsvorgängen vielmehr ein starkes Vertrauen untereinander aufgebaut. Auch für ein junges Publikum gibt es kein großes Verständnisproblem. Sowohl Amy Josh, eine aus England stammende Tänzerin, als auch der Schauspieler Faris Yüzbaşioğlu sind in ihren Ausdrucksformen lebendig, unterstreichen mit Handgesten oder leicht tänzerischen Begegnungen ihre Aussagen. Die kleinen Monologe der beiden wirken wie musikalische Einlagen. Die einzelnen Worte lassen sich nicht immer in ihrer Bedeutung rekonstruieren, aber der Sinnzusammenhang erschließt sich.

Auf der Suche nach Antworten

Diese vier Performer in leicht verfremdeten, überwiegend gelben Arbeitsmonturen kontrollieren dieses Röhrensystem auf etwaige Überlast, aber auch Unterlast. Diese Ausschläge treffen auch auf Gefühle zu: Zu moderat sind sie langweilig, zu heftig wirken sie explosiv, zu wenig verwandelt die Welt in Eis. Mehr noch: Gefühle äußern sich oft ohne Kontrolle. Wie kann man dann aber über sie sprechen? – das ist der Forschungsauftrag, den die Vier haben: Wie über etwas reden, dass jeden bewegt und sich doch so schwer in Worte fassen lässt?

Amy und Faris – die Performer reden sich mit ihren Vornamen an – sowie Frederic Lilje und Gerd Ritter stürzen sich lustvoll bei dieser Stückentwicklung von Grete Pagan und dem Ensemble in dieses Vorhaben, spielen Ekel über Angst bis hin zur Melancholie die Gefühle durch, mal expressiv pantomimisch, mal in Kämpfen (Choreographie: Franzy Deutscher) zur Stoppuhr, mal vor Angst durch den ganzen Raum hetzend, zumal, wenn sie von Monstern gejagt werden. Lustvoll haschen sie über die Beleuchtungsbrücke, greifen zu den Instrumenten und musizieren gemeinsam, um sich zu beruhigen, oder um sich ihrer Gemeinschaft zu versichern (Musik: David Pagan). Die Vier versuchen sich selbst Aufgaben zu geben. Im Verlaufe des Spiels schaltet sich immer mehr die Maschine ein, die, wenn die Gefühle überborden, Bälle ausspuckt. An der kleinen Trafostation werden kleine Aufträge mit Fragen an den einzelnen Performer ausgedruckt, die immer persönlicher werden, wenn beispielsweise am Schluss Gerd Ritter gefragt wird, wie er sich seine Beerdigung vorstelle?

Die Performer bleiben allerdings nicht nur bei sich. Sie wenden sich auch direkt an das junge Publikum und beziehen es in ihr Spiel mit ein, befragen es, nehmen Vorschläge an, versichern sich, holen Bestätigungen ihrer Haltungen vom Publikum: Regisseurin Grete Pagan hat mit der Gruppe genaue Handlungsabläufe und Textbausteine festgelegt, aber innerhalb dieses Rahmens können Texte improvisiert werden, um sich auf die Vorschläge der Zuschauerinnen und Zuschauer einzulassen. Aus diesem Austausch entwickelt sich ein quicklebendiges Spiel, das sein Publikum ernst nimmt und großen Spaß macht – obschon das zugrundeliegende Konzept der bildhaften Darstellung von Gefühlen als Lüftungssystem allzu mechanistisch wirkt.