Foto: Jana Baldovino und Joel Distefano in „Le Sacre du Printemps“ von Marco Goecke © Marie-Laure Briane
Text:Miguel Schneider, am 18. Juli 2025
Ein Wiedersehen zwischen George Gershwin und Igor Strawinsky: Unter dem Sammeltitel „Strawinsky in Paris“ stellen Jeroen Verbruggen und Marco Goecke zwei Temperamente in einem zweiteiligen Ballettabend am Staatstheater am Gärtnerplatz nebeneinander. Von symphonischer Romantik keine Spur – stattdessen hetzen Jazz‑Hupen und ein radikal neu gedachtes Frühlingsopfer über die Bühne, dramaturgisch präzise gefasst durch klug gesetzte Ruhepole.
Der Abend öffnet mit Jeroen Verbruggens „Farewell in Paris“ als Hommage an George Gershwin und sein „An American in Paris“ – von vier Aaron Copland‑Zwischensätzen geschickt entschleunigt – und führt nach der Pause mit Marco Goeckes „Le Sacre du Printemps“ zu Igor Strawinskys gleichnamigem Stück über. Beide Partituren sind von unruhigem Rhythmus geprägt: Gershwin skizziert ein hupendes Großstadt‑Panorama, während Strawinsky mit schroffen, an seine spätere Zwölftonphase gemahnenden Akzenten direkt ins Nervensystem sticht. Gerade diese Gegenüberstellung macht die Programmierung reizvoll und zwingt beide Choreografen, neue Wege zu finden, das Chaos zu ordnen.
Rosenregen und Hupkonzert
Ein LED‑Kreis unter Bühnenbildnerin Natalia Kitamikados neonrosa Fontäne zitiert den Brunnen aus der Schlusssequenz des Films „An American in Paris“ von Vincente Minnelli – hier rückt dieses Finale an den Beginn von Verbruggens Choreografie und wird zum schillernden Treffpunkt. Ein Tänzer, der wie der Amerikaner Gershwin selbst wirkt, beobachtet das Treiben aus der Distanz; und spätestens als ein Blumenstrauß aus den „Wolken“ fällt, ist das symbolische Thema gesetzt. Mit akrobatischen Sprüngen und weit ausladenden Bewegungen begibt er sich auf Erkundungstour durch einen Ort ungebremster Sinnesreize.

Matthew Jared Perko und das Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz in „An American in Paris“. Foto: Marie-Laure Briane
Mit jedem Auftritt des Ensembles kommen mehr rosa Blümchen an den Kostümen (Emmanuel Maria) hinzu: erst vereinzelte an den Shorts, später bedecken sie ganze Jacken. Die Tänzer:innen kreisen um den Brunnen, formieren sich in Broadway‑präzisen Linien – Sprung‑Portées werden zu Ampelschaltungen, Ausfallschritte zu hupenden Taxen. Ein Tanzvokabular, das irgendwo zwischen Swing, Vaudeville und Showballett changiert – nie nostalgisch, immer mit humorvollem Abstand.
Verbruggen weiß, dass Gershwins Rhapsodie Ruhepole braucht: Er streut vier Sätze aus Coplands „Billy‑the‑Kid“‑Suite als dramaturgischen Filter ein. Deren weite Melodiebögen dämpfen das hektische Hauptstadtgetümmel und geben Raum, die Gedanken zu sortieren. Verklingt Copland, wird der Broadway‑Drive wieder aufgenommen. Gershwins „frei komponierte Musik“ bekommt so eine Choreografie, die sie weniger bebildert als kommentiert. Pariser Atmosphäre pur: leicht, ironisch, rosarot-romantisiert.

Ethan Ribeiro, Matthew Jared Perko und Micaela Romano Serrano in „An American in Paris“. Foto: Marie-Laure Briane
Zwei Tänzer:innen in weißen Bustiers und der „blumenlose“ Beobachter liefern Einschübe in die Gruppenszenerien und tauchen wiederholt im Wechsel mit ihnen auf. Hinten winkt ein Duo hölzern, bis aus dem starren Gang von der Bühne ein ausgelassenes Schwingen wird. Das laute Gelächter der beiden wirkt: Es unterbricht die Musik, startet den nächsten Abschnitt und zeigt, dass Abschied nur eine Frage der Perspektive ist. „Leben ist ein Kabarett der Komplexität“, so Verbruggen im Programmheft, und er liefert die choreografische Fußnote gleich mit.
Am Ende trägt auch der „Gershwin“-Tänzer Blumen und jagt hinter die Kulisse: Paris lässt ihn erst gehen, wenn es ihn verzaubert hat. Kein Pathos, eher ein lässiges Schulterzucken – Farewell als Augenzwinkern.
Rituale im Stroboskop
Bei Marco Goeckes „Le Sacre du Printemps“ löst sich Gershwins blumige Urbanität in ein nervöses Innenleben auf – das Ballettensemble des Staatstheaters am Gärtnerplatz meistert den Stilbruch souverän. Goecke stürzt mit seiner Choreografie direkt in das strukturierte Chaos und verschärft das musikalische Tempo, statt es abzufangen – eine für ihn typische Bewegungsästhetik, die auf Daueranspannung, kontrolliertes Zucken und impulsive Fragmentierung setzt.
Die Bühne bleibt leer, die Kostüme von Marvin Ott sind in Schwarz‑Beige gehalten, jedes Detail der Bewegung drängt nach vorn. Die Soloeröffnung beginnt mit hektischem Händeflattern, als wolle die Tänzerin eine lange Geschichte in kürzester Zeit ausdrücken – die erzählerische Opferung einer Frau des einstigen Skandalstücks lässt Goecke bewusst weg und richtet den Blick auf Angstkreisläufe, Macht und Täter‑Opfer‑Rollen.

Das Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz in „Le Sacre du Printemps“. Foto: Marie-Laure Briane
Das Ensemble reiht sich in einer Linie hintereinander auf – alle Tänzer:innen mit Bewegungen wie codierte Impulse: präzise, geisterhaft. In kurzen Abständen lösen sich einzelne aus der Reihe und stellen sich nach vorne – die Ordnung rotiert permanent, bis die Körper sich diagonal über die Bühne auffächern.
Diese Choreografie lebt von Mikrogesten: atemhektische Handzeichen, verkrampfte Bewegungen im Oberkörper, kurze Fauch‑Impulse des Ensembles. Ruhepole? Keine. Im Verlauf senkt sich eine Glühbirne über die Bühne als einziges Requisit. Die feinnervigen Details übersetzen Strawinskys rhythmische Schocks zwar verlässlich, doch die Choreografie folgt der Musik nicht durchgängig: Die Bewegungen entwickeln sich eher zum eigenständigen Stimmungsträger – ein durchgehendes Narrativ entsteht dabei jedoch nicht vollends. Die Musik treibt, ohne dass sich ein klarer dramatischer Bogen abzeichnet.
Vielleicht soll sich dieser Bogen auch gar nicht schließen – das wäre konsequent bei einem philosophisch-psychologischen Thema, das mehr seelische Zustände als äußere Ereignisse ins Zentrum stellt. Goecke verwebt Tragik und Schönheit zu toxischen Duetten, die sich gegenseitig bedingen. Sein „Sacre“ endet mit einem grotesken Mundspreizer, der das Gesicht eines Tänzers verzerrt: Schultern zucken, die Glühbirne verlischt beim letzten Paukenschlag. Keine große Opferung, sondern abrupte Dunkelheit – eine risikovolle Umdeutung, die wirkt. Das Premierenpublikum dankt mit großem Applaus.
Mut zur Reibung
Die choreografische Konzeption stellt zwei kontrastierende Bilder nebeneinander: Verbruggens Broadway‑helle Gershwin/Copland‑Collage trifft auf Goeckes düster verdichteten Strawinsky‑Kern. Beide Uraufführungen zeigen, wie weit sich klassische Partituren durch zeitgenössische Bewegung neu befragen lassen.
Das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz bewältigt die stilistische Bandbreite mit bemerkenswerter Transparenz – besonders Gershwins Jazzelemente und Strawinskys rhythmische Blockhaftigkeit werden klanglich sauber ausgespielt, mit exzellenten Holzbläsern in den prominenten Passagen. Der Mut, zwei ikonische Musikwerke in so unterschiedlichen choreografischen Handschriften aufeinanderprallen zu lassen, zahlt sich aus. Von dieser Spannung lebt „Strawinsky in Paris“.