Foto: Das Ensemble von „La Bohème Supergroup“ © Peter van Heesen
Text:Jasmin Goll, am 17. Dezember 2021
Mit dieser lautstark erklingenden Hookline schließt das Punk-Konzert im Berliner Club Mensch Meier – „fuck your fucking standards!“. Die „Bohème Supergroup“ aus Mimì, Rodolfo, Marcello und Co. beweist noch einmal ihr Können und gibt trotzig zu verstehen, dass sie nicht die schwachen Underdogs sind.
Doch von vorne: Das Musiktheaterkollektiv glanz&krawall, das in Berlin unter anderem mit der Festivalreihe „BERLIN is not …“ für Aufsehen sorgte, hat erneut Ernst gemacht mit seinem Namen. Kurz vor Weihnachten drehen Marielle Sterra und Dennis Depta Giacomo Puccinis Herzschmerz-Evergreen „La Bohème“ durch den Fleischwolf und schlagen auf sehr eigene Weise Funken aus dem emotionalen Kraftwerk, das die Puccini-Oper immer wieder zu entfachen vermag. Nicht zum Weinen verleitet die romantische Begegnung von Rodolfo und Mimì oder der Tod der Protagonistin, sondern nur (zynisch) lachen und feiern kann man diese köstlich amüsante wie kraftvolle Performance.
Eine Bohème aus Dummchen und Trotteln
Ein fünfköpfiger Frauencast aus professionellen Schauspielerinnen und Laiinnen nimmt sich den Rollen spielerisch und in fliegendem Wechsel an und zeigt die prekär lebende Bohème als Truppe aus Dummchen und Trotteln. Die funkensprühende Begeisterung für die Kunst und der aufopfernde Idealismus, der Mittellosigkeit in Kauf nimmt, ist passé. Arm aber sexy – so fühlen sich Rodolfo und Marcello dennoch. In den extravaganten Kostümen von Vanessa Vadineanu aus Nieten und Animal Print sowieso. Rodolfo, der sich als Konzeptkünstler versteht, bringt nicht einmal die Energie auf, einen Förderantrag fertigzustellen, und Marcello erhofft sich durch Übungen mit lächerlich leichten Hanteln die Schaffenskraft, die sich vom Bizeps auf seinen Malerpinsel übertragen soll. Sie gieren nach Beachtung im Netz, strotzen vor Testosteron und erwecken nicht allzu viel Mitleid für ihr prekäres Künstlerdasein. Monika Freinberger und Kara Schröder geben in den humorvollen Zwei-Personen-Szenen ein eingespieltes Duo ab. Schröder mit cooler Lässigkeit, Freinberger mit einnehmender Bühnenpräsenz. Die mit stereotypen Schablonen ausgestanzten Figuren entkleiden die Handlung jeglicher Sentimentalität und lassen plakativ hervortreten, wie albern doch letztlich die Handlung dieses festen Bestandteils des Opernrepertoires ist. Dennoch ist zu fragen, ob gerade „La Bohème“ der beste Ausgangspunkt für eine Komödie mit flachen Charakteren ist…
Von Puccini-Kitsch und romantischer Liebe wird hier auf jeden Fall niemand mehr eingelullt. Neben neu entwickelten gesprochenen Dialogen erklingen die bekannten Melodien der Puccini-Oper, die Kat Papachristou (in Berlin bekannt als Tango with Lions) recomposed hat. Auf Keyboard und Synthesizer werden die Arien und bekannten Zwischenspiele der Oper zu einem schmalen Dudelsound zusammengefaltet, der auch aus einer Spieluhr oder Telefon-Warteschleife kommen könnte. Darüber schmettern die Frauen in selbstbewusst tiefer Bruststimme die Arien. Der Performer (sic!) Cora Frost kratzt als Altrocker mit verbrauchter rauchiger Stimme nochmal seine Lover-Qualitäten zusammen, um das Naivchen Mimì mit O-Sole-Mio-Schmalz zu umgarnen.
Trotz allem – eine begehrliche Welt
In ihrer Typenhaftigkeit verhindern die Figuren jegliche Identifikation und Mitleid mit ihrem Prekariat. Auch Musetta, die als unerreichbar-erfolgreiche Rocklegende mit selbstbewusstem Beispiel vorangeht, das aber dann in sich zusammenfällt, wenn – wiederum Monika Freinberger großartig – in abenteuerlich auf- und absteigender Intonation leere Phrasen auf Englisch daherplappert. Die Welt, aus der die Bohème ausgestiegen ist, wird nicht ganz greifbar. Sie scheint aber trotz aller Non-Konformität, die sich die alternativen Künstlerinnen und Künstler auf die Fahne schreiben, begehrlicher als gedacht. In stupiden Tatütata-Quarten zählen sie hypnotisiert Konsumgüter wie „Iphone“ und „Penthouse“ auf. ‚Standards‘, die sie also doch gerne in ihrem Leben hätten?
In Mimìs letzten Stunden ertönt eine Herzschlagfrequenz, aus der sich allmählich ein mechanisch-technoides Klangbild à la Kraftwerk formt. An der Oper hat man sich jetzt lange genug gerieben, jetzt Bühne frei für anarchischen Punk-Protest im abgerockten Club Mensch Meier, denn „Wir entlassen alle Opfer aus der Oper!“ Tiefere Gedanken zu Prekariat und Berichte von Langzeitarbeitslosen und Frühverrenteten, die durch Performerinnen mit diesen Erfahrungen selbst in die Produktion eingeflossen sind, werden zwar hier und da eingeflochten, aber so richtig nicht verhandelt. Die eigens geschriebenen Punk-Songs vermischt mit Tiersounds auf dem Kinderkeyboard und Mini-Akkordeon entfachen dann auch kein allzu subversives Feuer mehr. Und doch feiert sich die Bohème am Ende selbst und animiert das Publikum energetisch zum Mitgrölen. Einen überzeugenden Gegenentwurf oder gar einen Lösungsansatz, der die Misere durchbricht, bleibt uns der Abend schuldig. Aber die Oper ja auch.
2022 wird die Produktion bei den Musiktheatertagen Wien zu sehen sein.