Elisabeth Stöppler, seit ihren Dresdner Arbeiten als Regie-Hoffnung gehandelt, erzählt die verwirrende Rossini-Variante der staatstragenden Story (Schweiz gegen Österreich in französischer Sprache) mit unzählbaren Assoziations-Verknotungen wie eine Parabel. Die Gefangenen könnten auch Dissidenten oder Flüchtlinge sein, die Unterdrücker auch Machthaber aus dem Bewusstseins-Archiv der Tagesschau. In Hermann Feuchters Bühnenbild, das Versenkungen für jeden Anlass bietet, ist viel Platz zum Ausbau von Denkmal-Stationen und Schattenwürfen, aber wenn bei der ständigen Verschränkung von Zeit- und Gefühlsebenen eine Florettmannschaft mit Revolververstärkung als Eingreif-Truppe gegen die heimatmuseale Armbrust-Armee antritt, sind die Bilderrätsel nicht mehr zu knacken. Da blubbert es einfach nur noch im Sammelbecken der Gedankenspiele, und der plötzliche Griff der Sänger zu Schillers Reclam-„Tell“ bringt bloß die bedingt tröstliche Auskunft, dass tödliche Berglawinen weniger schlimm sind als Tyrannen – was wohl einer Einzelfall-Prüfung bedürfte.
Guido Johannes Rumstadt, sonst in Nürnberg eher für den flotten Zugriff bekannt, steigt behäbig ein. Er betont gegen das Image vom komponierenden Leichtfuß den pathetisch stelzenden Spät-Rossini, wird im Schwermütigen schwerfällig, befreit sich und das Orchester der Staatsphilharmonie nur langsam aus dieser Zwangsjacke und schafft es am Ende mit dem Schwenk zum dramatischem Feuerwerk. Neben dem großartig singenden, als lebende Kulisse bewegten Chor (Leitung: Tarmo Vaask) ist das mit Opernstudio-Nachwuchs kühn aufgefüllte Solisten-Ensemble von unterschiedlicher Qualität. Martin Berner in der Titelrolle bleibt mit fein strukturiertem Mozart-Bariton so blass, wie Nicolai Karnolsky als bellender Gegenspieler Gessler pauschal wirkt. Leila Pfister gibt Tells Frau diskret Kontur, Tilman Lichdi singt den jungen Ruodi temperamentvoll und muss dann auf allen Vieren mit Bockshörnern als Opfer-Tier über die Bühne kriechen. Dafür garantieren der alle höllischen Höhen meisternde Tenor Uwe Stickert und die kokett auf Koloraturen posierende Leah Gordon, die ein erfrischend grotesk skizziertes Gegensatz-Paar wie Geissenpeter mit Pompadour abgeben, beklemmende und musikalisch erstklassige Momente.
Bei der Premiere, die von BR-Klassik übertragen wurde, gab es zusätzliche Irritationen. Eine indisponierte Sängerin bekam die Cover-Stimme zur Darstellung aus dem Orchestergraben, und weil die Ersatz-Sopranistin nicht alle Arien der Nürnberger Fassung beherrschte, wurden von mehreren Szenen die Endproben-Aufnahmen vom Band eingespielt. Hätte niemand darauf hingewiesen, wäre das Playback glatt als weiterer rätselhafter Regie-Einfall durchgegangen. Es macht Mühe, das positiv zu werten.