Foto: "Women" von Sasha Waltz bei "Tanz im August" © Ute und Luna Zscharnt
Text:Ulrike Kolter, am 1. September 2017
Sasha Waltz präsentiert ihre neue Choreographie „Woman“ als Ritual in der Berliner St. Elisabeth Kirche
Erst Anfang Juni brachte Sasha Waltz mit „Kreatur“ ihre letzte Uraufführung in Berlin heraus, eine üppig ausgestatte Kreation in Zusammenarbeit mit einer Modedesignerin, einem Lichtdesigner und dem Musiker-Trio Soundwalk Collective. Dagegen kommt „Women“, uraufgeführt im Rahmen von Tanz im August in der Berliner St. Elisabeth-Kirche, geradezu spartanisch daher.
Die von Karl Friedrich Schinkel im klassizistischen Stil konzipierte, inzwischen als Kulturraum genutzte Kirche in Berlin Mitte ist prädestiniert für zeitgenössischen Tanz: Über 300 m2 groß ist der fast quadratische Innenraum, weiße Linien markieren den schmalen Außenrand, hinter dem sich das Publikum stehend oder sitzend aneinandergedrängt postiert. So erlebt man, dass Tänzerinnen nur wenige Zentimeter neben einem agieren, keuchen, einen anstarren – intensiver kann eine theatrale Situation kaum sein.
Für „Women“ hat Sasha Waltz nur mit Tänzerinnen gearbeitet: Inspirationsquelle war ihr dabei Judy Chicagos feministisches Kunstwerk „The Dinner Party“, ein dreieckiger Tisch mit 39 Tellern, der seit 2007 im Brooklyn Museum in New York ausgestellt ist. 39 Gedecke sind hier mythisch oder historisch bedeutsamen Frauen gewidmet, die sich zu einem fiktiven Essen treffen sollen – eine große Hommage an das Weibliche in der Welt. Bei Sasha Waltz wird dieser dreiseitige Tisch erst in den letzten 20 Minuten des Abends aufgebaut, bis dahin bleibt der Raum komplett frei für archaisches und sehr körperliches Tanztheater, das mich den Begriff in seiner Doppeldeutigkeit endlich mal wieder verstehen lässt.
Einerseits deshalb, weil der erste Teil dieses „choreographischen Rituals“ bis in kleinste Bewegungsdetails so perfekt getimt und spannungsgeladen ist, dass man kaum atmen mag, Tanz in höchster Perfektion darstellt. Und andererseits, weil der zweite Teil – das Tischritual, bei dem sich alle Tänzerinnen setzen und das Publikum aufstehen darf – auch in der schauspielerischen Qualität überzeugt, dabei Elemente von Komik und Tragik vereint, doch dazu später.
Aus Lautsprechern dröhnt es bedrohlich, rhythmisches Trommeln, tief gezupfte Streicher (Musik: wieder Soundwalk Collective). Die 19 Frauen schreiten herein, in schwarzen oder creme-farbenen Kleidern, opfergleich sitzt bald eine von ihnen inmitten, ehe dutzende Hände und Finger sie umschlingen, ihr die Seele auszureißen scheinen und damit wegrennen. Brutale, von Stöhnen oder Schreien untermalte Bilder folgen: einer Frau wird der Oberkörper in der Brücke vor und zurückgeworfen, eine andere am langen Zopf im Kreis gewirbelt, wieder eine andere wird nach zärtlicher Hebung brutal zu Boden geworfen. Doch es entsteht kein Bild des Grauens, Folteransätze wechseln mit Lust und viel Sinnlichkeit: zartes sich auf die Brust trommeln, leidenschaftlich gespreizte und wieder zusammenklatschende Oberschenkel, und wiederholt die flehend gen Himmel gereckten Arme. Im fließenden Wechsel von Einzel-, Paar- oder synchronen Gruppensequenzen nutzt Sasha Waltz die zentralistische Perspektive des Raumes; vorn und hinten sind aufgelöst.
Irgendwann holen die Tänzerinnen aus dem Hintergrund (nachgebildete) Organe: blutverschmierte Herzen, Gedärme, Lungen und Nabelschnüre, die sie akkurat auf dem Boden verteilen, sich gegenseitig an die inzwischen entkleideten Körper pressen, lüstern halb und irre fast. Als später der Tisch aufgebaut ist, werden die Innereien auf weiße Teller verteilt, eine der Tänzerinnen auf dem Tisch komplett mit ihnen bedeckt, bis nicht mehr zu unterscheiden ist zwischen lebendem, nacktem Körper und totem Fleisch. Was denn ist der Mensch mehr als dieser Haufen toter Zellen? Die roten Fleischbrocken sind letztlich auch das einzig verbindende Element zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Teilen der Choreographie.
Dann setzt man sich zu Tisch, das Publikum wird zum Aufstehen animiert und darf umhergehen, große Schwere wechselt – wie so oft an diesem Abend – gekonnt ins Leichte, Komisch-Absurde. Mit Gabeln kämmen sich die Frauen gegenseitig die wildgelockten Haare, mit großen Löffeln wird die eigene Brust abgetastet, die Messer genüsslich ins Unterarmfleisch geritzt. Das finale Gruppenbild, ein exzessiver Emotionsrausch aus psychotisch gebrüllten, mimisch verzerrtem Weinen und Lachen, lässt einen verstört zurück. Das ewig Weibliche: zum Irrewerden verdammt, oder mehr Fleisch als Geist? Ein großer Theaterabend außerhalb des Theaters, der dennoch kryptisch bleibt.