Dortmunder „Faust“: Marlena Keil (Margarete), Antje Prust (Mephisto), Linus Ebner (Faust, im Hintergrund) sowie Mervan Ürkmez und Lola Fuchs (Zwillinge).

Flucht aus der faustischen Männerwelt

Nach Johann Wolfgang von Goethe: Faust

Theater:Theater Dortmund, Premiere:31.10.2020Regie:Mizgin Bilmen, Julia Wissert, Kirsten Möller, Ensemble

Neugier wecken und Begeisterung schüren, so beginnen Spielzeiten unter einer neuen Intendanz. Auch mal buhlend groß denken und handeln, ist angesagt. Daher setzt Julia Wissert am Schauspiel Dortmund bei der ersten Stückpremiere auf den Lebenswegbegleiter und die Identifikationsfigur von vielen Bildungsbürger-Generationen: Goethes „Faust I“. Heimgeleuchtet werden soll dem deutschen Nationalhelden, der das Erkenntnis- und Glücksgefühlstreben in die Maßlosigkeit eines allmächtigen Wollens überführt. Es soll Selbstentfaltung und Weltbemächtigung vereinen, aber nur Selbstentfremdung erlebt der Protagonist, Leichen pflastern schließlich seinen Weg.

Üppige Angebote ans Theater. Aber da verbietet die aktuelle Coronapolitik erstmal eine sichtbare Kooperation mit der Essener Folkwang Universität der Künste. Studierende sollten als Chor mitwirken, passen bei den geltenden Abstandsregeln aber nicht auf die Bühne, sind daher nur aus dem Off zu hören. Dann wurde auch noch die Ruhrpott-Regisseurin Mizgin Bilmen krank – aufgewachsen in Duisburg, Literaturwissenschaft in Dortmund studiert sowie Regie in Essen –, sodass Intendantin Wissert, Dramaturgin Kirsten Möller sowie das Ensemble die Proben zur Premierenreife bringen mussten. Aber mehr als ein vorläufiges Ergebnis ist zu erleben, die inhaltliche Antriebsenergie des Teams wird zum Aufführungskonzept.

Die Bühne: weiß umwandete Leere. In nebelig fahlem Licht brüten drei höllisch schwarz in Netzanzüge gewandete Hexen (Kostüme: Alexandra Tivig) etwas aus, Vertreter einer eher animistischen Weltsicht sind es und damit von vorneherein Widerstandsgeister gegen Fausts vornehmlich fortschrittsgläubig rationale Sicht der Dinge. Sprecherin des Trios ist Mephisto, Antje Prust, die sich später mit einem Walter-Benjamin-Zitat einen Engel der Verzweiflung nennt und mit zwei gemetzgerten Schweinehälften als Flügeln schmückt. Als in die Unterwelt verbannte Kritikerin der Schöpfung will sie weiterhin mit ihrem Mythos und der Krönung in Menschengestalt aufräumen. So beginnt der Abend mit einem geschichtspessimistischen Aufrüttelmonolog. Die Worte stammen aus Vladimir Sorokins „Eis“-Romanen. „Wir hörten auf, Dinge zu sehen, denn wir konnten sie uns denken. Blind und herzlos nahm unsere Grausamkeit zu. Wir töteten und gebaren und töteten, was wir geboren hatten.“ Wir – das sind wir Menschen.

Auftritt Faust (Linus Ebner). Kontaktloses Malen präsentiert er, indem er Linien in die Luft wirbelt, die dank magischer Technik als fette Striche auf der Bühnenbegrenzung sichtbar werden, was die Mitspielerinnen zum Übermalen reizt. Der für Bühne und „Visual Arts“ verantwortliche Tobias Hoeft projiziert anschließend mit Spachtel und Pinsel auf Leinwand gestrichene Farblandschaften, die auch mal als 3D-Animation kosmische Tiefendimensionen vorspiegeln. „Ja, ja, ja“, entzückt sich Ebners Faust über sein Schaffen, lässt dann aber ein resigniertes Nein folgen, ist seine Kreativität doch nicht demiurgisch absolut, nur kleinlaut subjektiv. Enttäuscht hebt er zum „Habe nun ach“-Monolog an, breitet sein Selbstvergötterungsstreben aus, wobei die Graffitis nochmal bedeutungsvoll flimmern. Ebner wirkt wie ein smarter Jungakademiker und ehrgeiziger Hobbykünstler. In seiner Gedankenwelt gefangen, zitiert er Denkerposen, wuschelt in den Haaren und setzt auf fahrig ausufernde Gestik. Mephisto nähert sich ihm bellend wie ein wilder Hund, strampelt auch als putzig hechelndes Kuschelhaustier – und stellt sich als des Pudels Kern vor. Kühl, klar, souverän und süffisant führt Antje Prust den Faust sodann an der Nase herum und das Publikum durch die arg zusammengestrichene Handlung.

Schnell wird noch die Hexen- als eine Art matriarchaler Weisheitsküche mit reichlich Worten und ächzenden Tänzen angespielt, da stehen sich schon Faust und Margarete gegenüber. Ein Augenblick, der doch verweilen möge, so schön wie er sich anfühlt. Nicht wie ein ruchlos notgeiler Galan geht der Herr Doktor ins Tête-à-Tête, sondern mit naivem Jungsstrahlen. Marlena Keil gibt im biederen Kostüm kein niedliches Unschuldsopfer, nicht die Männerfantasie, sondern eine unsichere Prekariats-Göre. Hinreißend gespielt ist die Begegnung. Beide sind so wortverliebt wie schüchtern und überwältigt von plötzlicher Verliebtheit, dass sie sich vor allem körperlich-sprachlich mit heutigem Teenie-Vokabular auf die Suche nach dem Ausdruck der wahren Empfindung begeben. Überbordend schrill und irritiert zart. Was in einem spiegelbildlichen Gesten-Pas-de-deux mündet. Küssen verboten – so ist das in Coronazeiten.

„Schon lange lieb ich dich“, platzt aus Margarete die Faszination heraus fürs männliche Streben, sich horizonterweiternd, grenzüberschreitend als Forscher, Reisender und Verführer zu gebärden. Aber sofort verfällt sie in hysterisches Lachen über dieses Klischee vom Reiz des aktiven Mannes für eine im Alltag eher auf passive Rollen festgelegte Frau. Trotzdem: eben noch geflirtet, schon schwanger. „Schuld“-Gefühle werden Margarethe eingeflüstert, so ist ein gesellschaftliches Klima angedeutet, von dem sich eine Frau zur Abtreibung genötigt fühlt. Keil zeigt sie pantomimisch.

Mephisto befreit die Kindsmörderin aus dem Kerker, „sie ist gerettet“, und zieht mit ihr und den anderen beiden Hexen in die Walpurgisnacht, Faust darf nicht mit. Aber kein Fest der Theatereffekte hebt an, sondern im kunstlos beiläufigen Tonfall wird plaudernd an die Rampe ins Offene geschlendert. Der faustischen Männerwelt auf der Bühne entflohen, sind alle außer dem Titelhelden nun im Sehnsuchtsraum der Kunst gelandet, im Theater. Die Schauspielenden zitieren als Publikumsansprache feministische Empört-euch-Literatur mit der Aufforderung: „Ihr wisst, was zu tun ist.“

Konsequent aus dem Faust-Stoff entwickelt ist das allerdings weniger, das dramatische Weltgedicht war eher Stichwortgeber für die Beschreibung eines dramatischen Weltzustandes. Der behauptete Grund dafür, das faustische Denken, wurde nicht szenisch desavouiert, sondern sich einfach nur von ihm abgewendet. Ein klares Statement, ja, aber kein großer Theaterabend. Ebner, Keil und Prust deuten allerdings an, was schauspielerisch in Dortmund möglich wäre, wenn mal nicht die eine und andere These nüchtern verkündet, sondern auch die innere Lebendigkeit von Dramen heißblütig inszeniert wird – nach der neuerlichen Corona-Spielpause.

P. S. In der Kommentarrubrik zur Nachtkritik-Rezension der Dortmunder „Faust“-Inszenierung hat Regisseurin Mizgin Bilmen am 2. November 2020 gepostet: „bedauerlicherweise muss ich mich leider in vollstem umfang von dieser arbeit distanzieren, da sie absolut nichts mit meiner auffassung von theater oder leben zu tun hat… angefangen mit der tatsache, dass ich mich grundsätzlich davor hüte (und auch vor leuten, die es tun!) statements zu halten, da ich eher ein freund von dialektik bin und lieber thesen aufstelle als meine ‚meinung ‘ anderen leuten aufzudrücken…“ Das Schauspiel Dortmund reagierte mit der Anmerkung, die Produktion sei „einvernehmlich und in Absprache mit Mizgin Bilmen“ während ihrer krankheitsbedingten Abwesenheit zu Ende geführt worden.