Szene aus "Tonguecat"

Feuer und Eis

Saskia Bladt/Torsten Herrmann: Tonguecat

Theater:Bayerische Staatsoper, Premiere:25.07.2016Regie:Martha Teresa Münder/Daniel PflugerMusikalische Leitung:Marie Jacquot

Viermal gibt es Ulrike in dieser Musiktheater-Adaption des Science-Fiction-Romans „Tonguecat – Zungenkatze“ des belgischen Autors Peter Verhelst: als Mädchen (Smilla Maier), Tänzerin (Federica Aventaggiato), Sängerin (Marzia Marzo) – und als stammelnde Geigerin (Emily Yabe). Am unschuldigsten ist sie als Kind und Musikerin; Opfer und zugleich Täterin dagegen als Erwachsene und ihr Double. Nicht durch Zufall trägt sie wie die RAF-Terroristin den Namen Vornamen Ulrike (Meinhof). Einst Zeugin der brutalen Ermordung ihrer Eltern durch den Titan Iapetos, wird sie später selbst zur Mörderin, als dieser ihr wieder begegnet. In dessen Sohn Prometheus freilich, der seinen Vater rächen will, verliebt sie sich – und tötet ihn mit einem fatalen Kuss, der ihm das Feuer raubt, das sie fortan in sich trägt.

Als einziges Erbe bewahrt Ulrike die Haare ihrer Familie auf, die hier Männer strangulieren helfen und wie Lianen im Urwald über eine Bühne gespannt sind, die zwei Drittel der langgezogenen ehemaligen Reithalle an der Heßstraße einnimmt. Dreißig Musiker des erweiterten Münchener Kammerorchester sitzen im zentralen Graben, den die Szene umgibt (Ausstattung: Sammy Van den Heuvel, Dimana Lateva).

Ulrikes Geschichte wird in Rückblenden erzählt: In einer neuen Eiszeit ist Wärme zu einem kostbaren Gut geworden, ihre Erzählungen geben den Menschen das Gefühl von Nähe und Zärtlichkeit. Doch nach und nach kehrt die Erinnerung zurück und damit das Trauma. Das ist beim ersten Mal (in der Generalprobe) verwirrend, wenn man den Inhalt nicht kennt, denn es erschließt sich nicht aus dem Gesungenen, zumal eine Komponistin und ein Komponist abwechselnd die Szenen schrieben, die den Sphären von Kälte und Wärme, Eis und Feuer zugeordnet sind. Also war die Frau für das Feuer zuständig, der Mann für die Kälte. Beide zusammen komponierten die Schluss-Szene – in Korrespondenz via e-mail mit der Zusendung des jeweils gerade Komponierten. So wird auch der Hörer und Zuschauer in ein Wechselbad der Klänge getaucht, die manchmal ganz konzis sind, wie der eisige Beginn über an- und abschwellende Klangflächen des Orchesters, manchmal Geräuschhaftes betonen (dann werden Steine aneinander geschlagen oder Kissen traktiert) und ins Grelle kippen, dass das Ohr schmerzt, oder – wie in der Szene mit Ulrike als Geigerin, die mit ihren Ahnen spricht – allzu ausufernd geraten.  

Da hilft auch das Libretto von Anna Papst oft wenig weiter und so stehen die einzelnen Szenen oft isoliert für sich – hier ergänzt um Details aus der Inhaltsangabe des Romans: Da gibt es den König (Michael Porter aus dem Ensemble der Frankfurter Oper als haute contre mit herrlich abgemischten Tönen zwischen Counter und Tenor), der unter seinem Hermelin, der hier eine alte Steppdecke ist, eine Menge Menschen beherbergt, die zuvor aus der Kälte kamen und sich aus mehreren Schichten Kleidung schälten. Sie sind seine Untertanen, die gegen ihn aufbegehren, weil er der Kälte nichts entgegensetzen kann. Tonguecat schneidet sich die Haare und kommt als Page in seine Dienste. Dort trifft sie auf Juan, einen Weisen (Igor Tsarkov), der versucht sie dazu zu bewegen das Feuer freizugeben. Hier thront er den ganzen Abend seitlich der Bühne im schweren schwarzen Ledermantel barfuß auf einem Stapel Holz und orgelt immer wieder bassgewaltig vor sich hin.

Iapetos, der Titan, der Ulrikes Familie auslöschte, wird vom großartigen Bariton Johannes Kammler verkörpert, der ungemein facettenreich, höhensicher und auch eminent lyrisch singen kann. Wie Marzo und Tsarkov ist er Mitglied des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper. Blutverschmiert ist sein nackter Oberkörper, ein furchterregende Klaue bildet seine rechte Hand, das Gesicht ist kaum sichtbar unter einem aufgesetzten Tier-Schädel; seinen Sohn Prometheus tanzt der junge Valerio Porleri, der mit dem Tanz-Double von Ulrike in einem ebenso bitteren wie unerbittlichen Liebes/Hass-Pas-de-Deux verschmilzt, der durchaus faszinierende Momente hat, wie überhaupt die 100 Minuten der Oper immer wieder beeindrucken und dann wieder verläppern.

Es fehlt neben einem konzisen Libretto die musikdramaturgische Stringenz. Dieses doppelte Manko – zu dem vielleicht auch die Aufteilung der Partitur, komponiert von zwei Komponist/inn/en, zählt – können auch die beiden Regisseure Daniel Pfluger und Martha Teresa Münder nicht auffangen, selbst wenn sie zum Ausgleich dafür eine Menge Statisten agieren lassen.

Das Münchener Kammerorchester musiziert unter Leitung von Marie Jacquot mit der gewohnten Begeisterung für und Einfühlung in zeitgenössische Partituren. Die als „Projektchor“ im Programmheft geführten Sänger stimmen zwischendurch aus dem Off ganz aus der Zeit gefallende romabtische Sätze an. Aber bei aller Kritik im Detail war man doch froh, nach der exzellenten Kleist-Oper „Mauerschau“ und Kagels „Mare nostrum“ innerhalb der „Festspielwerkstatt“ diese Produktion sehen zu dürfen, die um so vieles spannender – und musiktheatralischer – war, als fast alles auf der diesjährigen „Münchner Biennale für neues Musiktheater“ im Mai.