Bieitos Inszenierung, die auf seiner Basler Produktion von 2009 aufbaut, wischt alle malerische Jammer-Poesie beiseite. Anders als im bisher einzigen Nürnberger Versuch, wo der Maler Michael Mathias Prechtl mit feinsinnig depressiven Stimmungsbildern die Ästhetik bestimmte, sieht man hier die aufgerissene Bühne voller Schlamm, Wasser und Blut wie ein Feuchtbiotop der Aggressionen. Aus der anonymen Masse der Sträflinge tauchen Einzelschicksale auf, wird das Abrufen von Erinnerungen zum Abhaken der letzten Hoffnung. Wenn die Männer in ihrer dumpfen Verzweiflung zur Ablenkung plötzlich grelle Theaterszenen aufführen, dabei von hysterischer Heiterkeit aus der Komödie bis in die reale Vergewaltigung getrieben werden, packt und schüttelt der Regisseur diese Szene wie in einem Wutanfall, lässt keinen der Beteiligten in Ruhe, wie er sie über schrille Travestie auf die Blutspur lenkt. Umso schärfer zeichnet sich dagegen die fahle Trostlosigkeit der Einzelgänger am Rande ab, die ihren Glauben bewahren, ihre Würde retten wollen. Die gern gestellte Frage, ob Janaceks „Aus einem Totenhaus“ gar kein Theater sei, sondern ein heimliches Oratorium – wer sollte sie jetzt noch stellen!
Diese radikale Inszenierung, die am stärksten im Stillstand brodelt, kann sich nur unter dem Schutz absoluter musikalischer Kompetenz entwickeln. Marcus Bosch leistet da mit der großen Besetzung der Staatsphilharmonie fabelhafte Arbeit. Er grundiert die Stimmungslage latenter Beklommenheit, aus der alles wuchert, und folgt den Spuren gebrochener Klänge wie mit einer geschärften Sense durch alle Abzweigungen. Auf den Inseln der biografischen Erzählungen versenkt er sich für Momente fragmentarischer Melodik ins Innerste der Figuren, zertrümmert die Ahnung von Wohllaut aber in der entscheidenden Wendung gleich wieder ganz im Sinne des Erfinders. Die Beherrschung dieses Klangbildes entlang von Grenzbereichen, der auch der verstärkte Chor mit ungeheurer Intensität entspricht, ist atemberaubend. So nah wie hier sind sich Regisseur und Dirigent auch in Nürnberg nicht allzu oft.
Eigentlich kann nur das ganze Kollektiv als Star dieser Aufführung genannt sein, aber einige Solisten im bestens gecasteten Männer-Ensemble sind denn doch auffällig. Kay Stiefermann, Cameron Becker und Marcel Bakonyi etwa, vor allem aber Antonio Yang. Die groß angelegte Erzählung des Gewalttäters Siskov, berühmt-berüchtigt als Herausforderung der denkbar schmerzlichsten Ausdrucksfähigkeit, ist bei dem zuletzt als Alberich und Wotan im Nürnberger „Ring des Nibelungen“ gefeierten Bariton ein Wunderwerk klingender Psychologie. Was für eine Sänger-Zukunft tut sich da auf.
Das Ende des Stückes hat seine eigene Aufführungsgeschichte. Ursprünglich wird der adelige Gefangene frei gelassen, während das Lagerleben einfach weiter eintönig seinen Lauf nimmt. Zwei Schüler Janaceks bogen das nach dem Tod des Komponisten zum versöhnlichen Schluss um, der dann doch irgendwann als Fälschung enttarnt wurde. Calixto Bieito lässt das Pendel in die andere Richtung schwingen. Der scheinbar Gerettete, der mit dem Entlassungsschein die Rückkehr ins freie Leben antreten will, wird vom zynischen Platzkommandanten abgeknallt. Es war alles nur Bosheit. Hoffnung ist nicht zu haben an diesem Opernabend, der Betroffenheit allerdings kann man sich kaum entziehen. Einige wenige versuchten es durch Flucht während der Vorstellung, andere durch gezielte Buh-Rufe am Ende gegen Regisseur und Dirigent. Die große Mehrheit atmete tief durch und jubelte dann ausgiebig. Da kann man sich nur anschließen.