Schon die Ausgangsfrage dieses Projekts eröffnet radikale Möglichkeiten: Hat uns Goethes „Faust“-Figur heute überhaupt noch etwas zu erzählen? In dem rücksichtslosen Egozentriker, dem verantwortungslosen, weltabgewandten Vereinzelten ist der moderne Mensch sinnbildlich vorweggenommen; als Vorbild taugt er insofern mit Sicherheit nicht. Und so wagt Jo Fabian am Staatstheater Cottbus die Antwort „Nein“. Damit steht nicht nur die rechtmäßige Stellung des Werks im bürgerlichen Klassikerkanon infrage, sondern auch die Zukunftsfähigkeit eines Stoffs, der mancherorts gar als Teil einer „nationalen Identität“ in Anspruch genommen wird. „Faust I“ hatte der scheidende Cottbuser Schauspieldirektor bereits in einer interaktiven Museumsausstellung angesiedelt und mit diesem dramenexternen Setting einen distanzierten, perspektivenreichen Zugang geschaffen; Premiere war im November 2019. Damit aber nicht genug. Auf der Grundlage von Probennotaten und mit ähnlicher Besetzung entstand nun eine weitere Arbeit auf der Großen Bühne, die sich als multimedialer, installativer Kommentar, ja als mögliche Antithese zu „Faust“ ausgibt: ein „Antifaust“.
Während der 135 Minuten des Abends dreht sich die Bühne (fast) ununterbrochen im Uhrzeigersinn. Aus dem geöffneten kreisförmigen Gerüst ragt ein Kreuz in die Höhe, ein zweites, nach vorne geneigtes aus ihm heraus. Auf ihm thront zunächst Mephisto (Boris Schwiebert) als schwarzer Engel, der die Zügel vs. Ketten in der Hand hat, wobei von den Figuren hier, wenn überhaupt, nurmehr Ideen übrigbleiben, die Darstellenden als Spielerinnen und Spieler verzeichnet sind. Ein weißer Engel ist ihm gegenübergestellt. Jo Fabians Bühne verfügt zudem über mehrere Screens, die per Live-Kamera (David Kasperowski) vor allem die Gesichter der Agierenden in Nahaufnahme zeigen. Innerhalb des Gerüsts befinden sich neben den insgesamt 21 Spielenden auch die Live-Musiker Chris Hinze und Lars Neugebauer, die mit ihrer nie abreißenden Soundcollage zu zentralen Akteuren werden. Der einzige, der von Beginn an nicht ganz Teil des Betriebs ist, ist ein dem Faust zuzuordnender Spieler (Axel Strothmann), er treibt, gehörnt und ans Joch gekettet, die Maschinerie mühsam an. Dieser Beschwerlichkeit sieht man gerne zu. Elegant gekleidet, ist er trotzdem nicht Herr der Vorgänge, sondern ihr Sklave, lässt an den heutigen, vom Kapitalismus geknechteten Menschen denken. Diese Bühnensituation, in der man zusätzlich nicht mit Nebel- und Lichteffekten geizt, will viel, ist teuflischer Kreislauf, Faust’sche Kopfgeburt. Kerker.