Szene mit Astrid Kessler, Zurab Zurabishvilli, Juhan Realla und der Chor des NTM

Fanatismus ist überall

Fromental Halévy: La Juive

Theater:Nationaltheater Mannheim, Premiere:10.01.2016Regie:Peter KonwitschnyMusikalische Leitung:Alois Seidlmeier

Gerade hat man noch im Programmheft geblättert – dann wird es schlagartig dunkel im Mannheimer Nationaltheater. Gewaltige Orgelklänge eröffnen Fromental Halévys fünfaktige Oper „La Juive“. Der Chor singt ein lautstarkes Te Deum. Ganz am Ende, als Astrid Kessler als Rachel im weißen Brautkleid die Stufen zu ihrer Exekution hinaufsteigt und das fanatisierte Volk „Oui c’en est fait et des Juifs nous sommes vengés“ – es ist vollbracht und wir haben uns an den Juden gerächt – brüllt, wird wieder das Licht ausgeknipst. Und die plötzliche Dunkelheit verstärkt die Wirkung des grausamen, unversöhnlichen Schlusses. Dazwischen liegen dreieinhalb Stunden voller Intensität. Für Regisseur Peter Konwitschny ist es wichtig, dass die von ihm inszenierten Opern viel mit dem Publikum zu tun haben.

Deshalb führen in Mannheim bei dieser Koproduktion mit der Opera Vlaandern (Premiere in Gent: 14. April 2015) zwei Stege von der Bühne über den Orchestergraben ins Parkett, auf denen sich immer wieder Akteure unter die Zuschauer mischen (Ausstattung: Johannes Leiacker). Deshalb erzählt der Regisseur die Geschichte nicht vor dem Hintergrund des Konstanzer Konzils von 1414 als Konflikt zwischen Christen und Juden, sondern abstrahiert die Handlung zu einer allgemein gültigen Parabel über Macht und Machtmissbrauch, über Ausgrenzung und Fanatisierung.  Die Christen tragen blaue Gummihandschuhe, die Juden gelbe. Auf religiöse Symbole wird weitgehend verzichtet. Die große Rosette einer gotischen Kathedrale weist hin auf einen sakralen Raum, der durch Neonleuchten und Stahlstäbe abstrahiert wird. Viele Nebenrollen und Musikstücke wie die Ballette sind gestrichen. Die Konzentration auf die sechs Hauptfiguren tut Halevys 1835 uraufgeführter Oper gut. Trotzdem lassen sich Dirigent Alois Seidlmeier und Regisseur Peter Konwitschny Zeit, die Charaktere zu entwickeln und die vielen lyrischen Ruhepunkte der Oper zur Geltung kommen zu lassen. Die Laboranordnung wird mit Leben gefüllt.

Auch wenn Zurab Zurabishvili als Éléazar stimmlich vor allem in der ersten Hälfte des klugen, emotional bewegenden Opernabends immer wieder an Grenzen kommt, bietet der Georgier ein packendes Rollenporträt des ganz im jüdischen Glauben verwurzelten Vaters, der hin- und hergerissen ist zwischen der Liebe zu seiner Pflegetochter Rachel und dem Hass auf alle Christen. Das Mädchen hatte  er einst beim Brand im Hause des römischen Beamten Brogny gerettet, der seine beiden Söhne wegen Ketzerei zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt hatte. Dass nun Brogny (mit kantablem, in der Tiefe etwas brüchigen Bass:  Sung Ha), inzwischen Kardinal und Leiter des Konstanzer Konzils, am Ende der Oper mit der von Éléazar jüdisch erzogenen Rachel seine eigene Tochter zum Tod verurteilt, ist der schärfste Stachel der dramatischen Geschichte.

Aber es schmerzt auch, wenn dieser gebrochene, verhärmte Éléazar seine Arie „Rachel, quand du Seigneur“ mit großer Inbrunst mitten im Parkett singt und vom Chor auf der Bühne ausgelacht wird. Nach Startschwierigkeiten findet das Orchester des Nationaltheaters Mannheim unter der Leitung von Alois Seidlmeier zu einer durchaus klangsinnlichen Interpretation, die gerade in den Holzbläsern und tiefen Streichern viel Wärme entfaltet. Die großen, nicht immer ganz intonationsrein gesungenen Chorsätze haben Wucht (Einstudierung: Francesco Damiani). Joachim Goltz ist als Konstanzer Bürgermeister Ruggiero mit seinem kernigen Bariton ein gefährlicher Stimmungsmacher. Estelle Kruger zeigt als Prinzessin Eudoxie viele Facetten und versöhnt sich in einer bezaubernden Szene mit ihrer Rivalin Rachel. Diese liebt Eudoxies Ehemann Léopold, der sich ihr gegenüber als Jude ausgegeben hat. Als Rachel von ihm die Wahrheit über seinen Glauben erfährt, steht er auf der Bühne und sie im Zuschauerraum. Die von Juhan Tralla mit leuchtendem Tenor vorgebrachten Entschuldigungsversuche werden von Astrid Kessler trocken kommentiert („Ach so, alles vergessen, das ist aber peinlich“), ehe sie mit ihrem lyrischen, wunderbar geführten Sopran um ihre Ehre kämpft. Kesslers hochexpressiver Gesang und ihre darstellerische Präsenz gehen unter die Haut. Auch Rahels Radikalisierung nimmt man ihr ab, wenn sie sich dem Volk im dritten Akt als Selbstmordattentäterin zeigt.

Zum Aktende stellen sich Chor und Solisten in zwei Reihen an einem langen Tisch auf und fabrizieren zum Rhythmus der Musik neue Sprengstoffgürtel. Jetzt tragen alle bunte Handschuhe. Fanatismus ist überall.