„Die Liebe ist wie ein Virus“, sagt der seine Gefühle in Schroffheiten verpackende Edward Fairfax Rochester einmal, wenn es zwischen ihm und Jane Eyre im Schweigen deutlich knistert, er sich nicht bekennen kann und sie darf. Jane Eyre ist gebildet, emotional kompetent und hat einen Stolz, den weder ihre Tante noch die Erziehung im Heim brechen konnten. Einen Vikar mit missionarischen Ambitionen (angemessen mild und blass: Andreas Bongard) will Jane auch nicht. Schließlich werden sie und der erblindete Rochester, dessen Schloss seine wahnsinnig gewordene Frau abfackelte, doch noch ein Paar. Dieses Seelen- und Emanzipationsdrama handelt überdies vom fast selbstzerstörerischen Schweigen, das Gordons Musik nicht so ganz zum beredten Schwingen bringt.
Starke Atmosphäre
Man kann sich gut anrühren lassen von Eve Rades klarer Stimme und ihrer quellklaren Persönlichkeit in der Titelpartie. Man kann sich auf gleicher Höhe anrühren lassen von Jonas Heins eleganter Gutsherrenart für Rochester, den man mit faszinierend dunklen Augenringen, Bartkoteletten und Silbersakko das passend retro-gotische Outfit verpasste.
Ivan Alboresi entwickelt neben hochkarätigen Choreografien in Nordhausen auch deutliche Ambitionen in der Musiktheater-Regie, wie in Nordhausen vor Kurzem mit „Tristan und Isolde“. Bei dieser Musical-Inszenierung erhoffte er sich viele Impulse aus seiner ersten Zusammenarbeit mit dem Bühnen- und Kostümbildner Pascal Seibicke. Weil es in „Jane Eyre“ um über Jahrhunderte ähnlich virulente Frauenprobleme geht, legte man sich für die Handlungszeit nicht allzu genau fest. Für die opulenten Kostüme nahm man sich Kreativanleihen aus dem langen 19. Jahrhundert und modellierte sie meist in Schwarz mit Silber- und Sandfarben. Es gab Krinolinen, Spitzen und Frisuren so turmhoch wie die souveränen Koloraturen von Amelie Petrich für Blanche Ingram.
Etwas zahm bleiben ihre Bemühungen, wenn Blanche sich den Hausherrn angeln will. Dafür gehören ihre Soli neben dem Charakterstück, in dem Rochester sich als Wahrsagerin verkleidet und mit beleidigenden Prophetie-Lügen die dekadente Damenschaft verjagt, zu den einprägsamsten Nummern. Der nicht immer ganz intonationssichere Chor (Einstudierung: Markus Fischer) darf paradieren und chargieren, die Solisten nicht. Trotz der stark und passgenau schrullig spielenden Maaike Schuurmans als Haushälterin Mrs. Fairfax, trotz des engagierten Marian Kalus als Richard Mason, trotz Sarah Alexandra Hudarew als typische Opernwahnsinnige im weißen Hemdkleid mit vollem Haar und trotz der in ihrer Sterbeszene melodramatisch aufdrehenden Anja Daniela Wagner als Janes Tante Mrs. Reed ist es ein eher statuarischer, introvertierter Abend. Henning Ehlert am Dirigentenpult und Ivan Alboresi nehmen die Musik, den Text, das Ambiente und die Spielmöglichkeiten in Seibickes variablen Quadratsäulen mit Silberverkleidung recht ernst und zu gewichtig. Die Atmosphäre ist alles – Brontës Seelenerkundungen und präzisierte Konfliktsituationen aber Schall und Rauch.
Ein neuer Musical-Erfolg
Irgendwann hat man den Dreh mit der Musik raus, die sich – vom Loh-Orchester Sondershausen mit kenntnisreicher Grandezza ausgespielt – ohne besonders individuelle Einfälle viel aus tönenden Klischee-Schubladen bedient: düstere Streicherfiguren für die Angst, drängende Akkorde bei Emotionen und melodische Stereotypen für die Gesellschaftsszenen. Das klingt weder zu aufdringlich noch zu matt. Beim zweiten und nach fast drei Stunden endgültigem „Ja!“ zwischen Jane und Rochester ist auch der Ohrwurmeffekt erreicht. Paul Gordons Partitur klingt dann nicht mehr nach Musikfundus, sondern setzt schließlich doch einige pikante Effekte in den routinierten Melodik-Mix.
Es ist Alboresi hoch anzurechnen, dass er keine Problem-Zerrungen, aber auch keine Musical-Bewegungsfloskeln zulassen will. Eve Rades wirkt als Jane Eyre immer so gelassen und frisch, als ob ihr keine Weltkatastrophe ein Stirnrunzeln ins Gesicht malen könnte. Sie und Jonas Hein (auch er ein prächtiger Könner) agieren in sanfter Zeitlupen-Intensität, als handle es sich um Tschaikowski. Somit gibt es einen – vielleicht sogar beabsichtigten – Bruch zwischen böser sozialer Schale und dem zarten Kern der schwierigen, stillen und auf Janes Seite stolzen Liebe.
Schaupracht und Schauwert habe an diesem Premierenabend unterschiedliches Tempo. Getanzt wurde verhältnismäßig wenig. Wenn sich die Gelegenheit dazu bot, musste es natürlich ein Walzer sein – der sehr gut ankam beim Publikum. Von den Gefährdungen und Blessuren von Frauen im frühen Viktorianismus erfährt man allerdings recht wenig, weil Alboresi und Eve Rades eine Frau zeigen, die sogar auf der Flucht eine fast stoische Ruhe ausstrahlt. Am Schluss gab es donnernden Applaus mit Bravo-Startern nach gleichermaßen harten und zarten Musiknummern. Das Theater Nordhausen hat einen neuen Musicalerfolg!