Aber im eigentlichen Zentrum steht – diesmal – anderes. Duri Bischoff hat einen hochherrschaftlichen Saal gebaut, mit Marmorsäulen und Ähnlichem. Wenn die Vorhänge dahinter zur Seite fahren, sehen wir direkt in die Schlachterwerkstatt hinein. Darum geht es. Oberflächlichkeit, schöne Larve, Leere. Eine statische, sich, Clemens Sienknecht deutet das in einer Szene zum Erschrecken im Wortsinn an, selbst verzehrende Gesellschaft. Ein Kochen im eigenen Saft, das sich vor allem Fremdem abschließt. Und das ist nicht komisch. Deshalb sprechen Josef Ostendorf und der wunderbar genaue Samuel Weiss als Biberhahn auch nichts auf Pointe. Und genau deshalb wird trotzdem gelacht. Nicht wegen der schlechten, falschen Zähne, die alle Beteiligten tragen. Die verstärken nur die Symbolik: Unter den Blinden bleibt der Blinde blind. In dieser Geißelung der nationalistischen Provinzialität, die momentweise fast als Schrift an der Wand, als Menetekel zu uns spricht, ist Christoph Marthaler ganz nah bei Jacques Offenbach. Auch wenn dessen Musik, abgesehen vom von Sasha Rau als Häuptlingstochter Atala charmant vorgetragenen „Püppchen“-Couplet, nur andeutungsweise in Klangpartikelform vorkommt.
Noch näher ist der Abend bei Nestroy. Besonders seine Methode der Überformung, durch einerseits Beschießen mit der Mundart und andererseits Modernisierung einer alten Vorlage durch Einfügen von Gags und Extempores aller Art, ist geradezu ein Prinzip der Aufführung. Das beginnt mit dem Koch Ho-Gu, bei Offenbach noch ein rein funktionaler, als Figur uninteressanter Comprimario. Marthaler und Marc Bodnar erfinden einen frustrierten Comédie-Francaise-Schauspieler, der hinreißend blöd schauen kann, einen lustigen Messertanz aufführt, nur Französisch spricht und ein hinreißendes Duett mit Josef Ostendorf singt: „Abends, wenn wir schlachten geh’n…“, natürlich nach Humperdinck. Ueli Jaeggi als in Paris aufgewachsener Häuptlingssohn und Starfriseur stellt nicht nur geradezu grantig aus, dass er eigentlich viel zu alt ist für seine Rolle, sondern exekutiert auch einen Heino-Song, „die schöne Atala“ (vormals Barbara), von Anfang bis Ende, geradezu als Hymne auf patriarchalisches Spießertum. Und schiebt eine Art Wirtschafts-Machiavelli für die Friseur-Innung hinterher. Und Clemens Sienknecht als Unterhaltungschef Hubert Casio wird eingeführt als einer, der ein Archiv von Nachrichten und Pressemeldungen im Hirn hat, das jederzeit aus ihm herausspritzen könne. Als es dann soweit ist, gerät er schnell ins Stocken, offenbar weil er Hunger hat. Denn als er sich Fetzen aus der Hand beißt, geht es gleich besser.
Das ist natürlich unappetitlich. Davor scheut sich Marthaler hier keineswegs, auch nicht, wenn Samuel Weiss weiche Wurst in sich hineinstopfen darf und muss, die für uns alle als Menschenfleisch deklariert ist. Da fühlt man sich unwillkürlich an Marco Ferreris Film „Das große Fressen“ von 1973 erinnert, der, nebenbei bemerkt, eine ganz ähnliche Stoßrichtung hatte. Die Marthaler wiederum befeuert, indem er bewusst politische Unkorrektheiten begeht. So werden bei der Aufzählung der Kannibalen-Speisen nicht nur Körperteile von Menschen aus der Dritten Welt verhackstückt, sondern auch „Dobrindt-Beuschel“ oder ein „Söder-Stör“, wogegen alles links von Herrn Lindner ungeschoren, besser unverspeist bleibt. Das ganze kippt dann in ein ungeheuer timing-sicheres Talkshow-Nachspiel, wo anhand eines albernen Anlass zwingend Machtmechanismen offengelegt werden.
Christoph Marthaler zeigt uns ein schreckliches, erschreckendes unentdecktes Land Groß-Lulu. Über das wir trotzdem immer wieder Lachsalven ausgießen. Und das dem, in dem wir leben, unangenehm ähnlich ist. Wie gesagt: Es geht zur Sache.