Foto: Evgenia Dodina als Claire Zachanassian © Julian Baumann
Text:Manfred Jahnke, am 27. September 2020
Was bedeutet es, Gerechtigkeit in ganzer Konsequenz einzufordern? Dürrenmatt hat diese Frage in seiner antikapitalistisch-moralischen „tragischen Komödie“ „Der Besuch der alten Dame“ untersucht, wenn er die Milliardärin Claire Zachanassian nach langer Zeit nach Güllen zurückkehren lässt, um eine Milliarde auf den Kopf des III auszusetzen. Der hatte sie einst verraten, sie sitzengelassen, seine Vaterschaft verleugnet und dazu zwei Zeugen zur Falschaussage bestochen. Claire wurde als Hure aus der Stadt gejagt. Der Bürgermeister weist ihre Stiftung (zunächst) empört zurück, weil man Gerechtigkeit nicht kaufen kann. „Die schlimmstmögliche Wendung“, die Dürrenmatt seiner Groteske zu geben versucht, transformiert das Stück in eine Studie, die vorführt, wie Geld eine vorgeblich humanistische Gesellschaft zerbröseln lässt, zumal eine derart männerbündische wie sie sich im Entstehungsjahr des Stücks 1956 noch behaupten konnte.
Zur Gender-Debatte hätte diese tragische Komödie interessante Aspekte beizutragen, aber Regisseur und Intendant Burkhard C. Kosminski geht am Schauspiel Stuttgart einen ganz anderen Weg. Er entschlackt zunächst den Text, ohne dabei in die Grundhandlungsstrukturen einzugreifen. Er kommt mit sechs Spielern aus, von denen fünf Honoratioren des Städtchens Güllingen – das in der Aufführung denn doch manchmal Güllen genannt wird – sind; außer Claire natürlich, die nur über einen Butler verfügt. Kosminski löst zudem die parabelhaften Strukturen seiner Vorlage auf, lokalisiert das Stück und konkretisiert es auch historisch in die Jahre des Zweiten Weltkriegs und in die Gegenwart. Gleichzeitig bleibt der Spielraum von Florian Etti abstrakt. Vor schwarzen Wänden hängen eng schmale weiße Leisten herunter, rechts und links sind sie zu Beginn nur auf halber Höhe niedergelassen. Sonst ist die Bühne zunächst einmal leer. Ein Raum, der die Spieler ausstellt.
Aber er verweist zugleich darauf, dass auf der Bühne Wichtiges verhandelt wird. In der Tat stehen zwei Komplexe im Zentrum: zum einen die Frage, ob Claire nicht Gerechtigkeit mit Rache verwechselt, zum anderen die, was Erinnerung mit einem macht und wie mit dieser Erinnerung umzugehen ist. Schon das Eröffnungsbild der Inszenierung verweist auf diese Fragestellung. Da steht hinten III mit drei Honoratioren vor dem weißen Brettervorhang. Sie starren dabei das Publikum an, warten auf Claire. Die kommt buchstäblich aus der Hölle, wird von der Unterbühne hochgefahren, spielt schwarzgekleidet (Kostüme: Ute Lindenberg) traumverloren an einem Klavier. Sie lässt den Männern gar nicht die Zeit für Smalltalk, sondern konfrontiert sie sofort mit ihrem Anliegen und beobachtet distanziert-amüsiert, wie diese Männer damals wie jetzt nach den gleichen kleinbürgerlichen Denkmustern handeln.
Die Israelin Evgenia Dodina, seit dieser Spielzeit festes Mitglied im Stuttgarter Ensemble, spielt diese Claire mit großer Präsenz und Vitalität aus. Mit roten Haaren, mit rauer Stimme spielt sie Katz und Maus mit dieser Gesellschaft, dabei immer freundlich distanziert. Dass sie hier die Fremde ist, wird auch deutlich, wenn sie ihre Dialoge mit III auf Hebräisch führt, so auch an die einstige enge Beziehung zu ihm erinnert. Mit den Honoratioren spricht sie Deutsch. Darüber hinaus hat Kosminski in den Dürrenmatt-Text drei hebräische Monologe eingebaut, die Peter Michalzik nach langen Gesprächen mit Dodina montiert hat. Hier wird nicht nur die Lebensgeschichte der Spielerin erzählt, die, in Mogiljow (Belarus) geboren, 16jährig nach Moskau ging, um Schauspielerin zu werden. 1990 wanderte sie nach Israel aus. Das Leben der Großmutter, die im Krieg verhungerte, und die Beziehung zur Mutter, die ihr als Kinderärztin Demut lehrte, stehen im Zentrum der Reflexion; hier löst sich ein wichtiges Theorem Brechts zum epischen Theater ein, nämlich zu der Rolle eine Haltung zu entwickeln.
Das Spiel Dodinas macht deutlich, dass Rache und die Rolle einer rächenden Erinnye keine Lösungen sind. Für sie ist Demut eine viel wichtigere Kraft als Rache, denn Rache ist „ein Versuch, die Erinnerungen loszuwerden“. Sie aber will sich den Erinnerungen stellen und übernimmt das Motto ihrer Mutter: „Vergiss niemals, sagte sie, aber suche nicht nach Rache.“ Und so verbindet das Spiel Dodinas in der Aufführung die persönliche Biografie der jüdischen Schauspielerin und die Rolle der Claire. Es werden zwei Haltungen nebeneinandergestellt, verdeutlichen das Sowohl-Als-Auch, das Brecht von seinen Darstellern gefordert hat. Dodina macht das grandios. Aber auch Matthias Leja spielt eindrücklich einen III, der zunächst gönnerisch auftritt, dann von Angst getrieben sich zurückzieht. Schließlich akzeptiert er seine Schuld, nimmt sein Schicksal an. Kosminski fasst das ins Bild eines Mannes, der hoffnungslos, aber mit sich im Reinen sein eigenes Grab schaufelt. Wie überhaupt die Regie große Bilder ausstellt: angefangen von den aus dem Schnürboden herabrieselnden Banknoten bis hin zu eindringlichen szenischen Arrangements, die meist frontal auf das Publikum (die große Menge der Güllinger) ausgerichtet sind. Kosminski nutzt dabei die den Hygieneregeln geschuldete Distanz zwischen den Spielern als dramatisches Element, wenn Spannung über die ganze Bühne gehalten werden muss. Sven Prietz als Bürgermeister, Marco Massafra als Lehrer, Felix Strobel als Polizist und Gabriele Hintermaier, in der Doppelrolle der Pfarrerin und des Butlers aus dem Zuschauerraum heraus agierend, liefern Studien von Menschen, die trotz (oder wegen?) ihres humanistischen Anspruchs der Gier verfallen.
Ein schauspielerisches Credo der Dodina ist, sie möchte die Menschen durch ihre Schauspielkunst berühren. Das ist ihr, den anderen Mitwirkenden und dem inszenatorischen Setting wahrhaft gelungen.
Der Titel ist ein Zitat aus den Monologen von Evgenia Dodina.