Foto: Ensembleszene mit Übertiteln und Jeronimus (Alfred Reiter im schwarzen Pullover) © Monika Rittershaus
Text:Andreas Falentin, am 1. November 2021
Dass es eine Komödie zur Nationaloper schafft, von denen es ja ohnehin nicht so viele gibt, ist ungewöhnlich. Carl Nielsens 1906 uraufgeführter „Maskerade“ nach einem Stück des dänischen Nationaldichters Ludvig Holberg von 1724 ist genau das geschehen. Seit vielen Jahren befindet sie sich, stets gut besucht, nahezu ununterbrochen im Repertoire des Königlichen Opernhauses in Kopenhagen. In Deutschland hat sich zuletzt – im Jahr 2013 (!) – das Theater Krefeld Mönchengladbach an den Stoff getraut.
Wie eine Uraufführung
Vielleicht auch deshalb lässt Regisseur Tobias Kratzer im Programmheft verlauten, er würde versuchen, das Stück wie eine Uraufführung zu inszenieren, also wie etwas dem Publikum vollkommen Unbekanntes. Was teilweise sogar im engeren Sinne zutrifft. Denn Martin G. Berger hat eigens für die Frankfurter Produktion eine neue, auch ein wenig bearbeitende, Übersetzung des Librettos erstellt. Das war mit Sicherheit keine einfache Aufgabe, denn es musste gereimt werden, wobei wiederum auf die Prosodie zu achten war, damit der Text flüssig zu singen ist. Und die Pointen müssen sitzen. Wie macht man das? Parodiert man das Alte oder versucht man es cool zeitgemäß? Berger hat sich nicht wirklich entschieden; sein Text lächelt sanft oder auch mal beißend über das Verzopfte und peppt es gleichzeitig mit zeitgemäßer Sprache auf. So entsteht eine Art kuschelige Ironie, also ein echtes Oxymoron à la schwarzer Schnee oder gemütlicher Krieg.
Was wiederum eine durchaus eine durchaus zweischneidige Aufgabe für den Regisseur ist. Tobias Kratzer erzählt die Geschichte souverän: Leander hat sich auf einem Maskenfest wie weiland Romeo in eine maskierte Schöne verliebt und möchte sie heiraten. Sein Vater Jeronimus reagiert entrüstet. Er lehnt alles Neue ab, vor allem die Mode der Maskeraden, bei denen auf Zeit soziale Hierarchien aufgehoben werden. Und Jeronimus möchte seinen Sohn mit Leonora verheiraten, der Tochter seines Standesgenossen Leonard – die natürlich die verschleierte Schöne ist, wodurch alle Konflikte während einer „Maskerade“ gelöst werden. Mit Nebenhandlungen und atmosphärischem Beiwerk bringt es diese überschaubare Story in Opernform auf knapp 150 Minuten Nettospielzeit.
Und an der Füllung oder Erfüllung dieser Länge scheitert Tobias Kratzer. Er führt Ensemble und Chor auf sehr hohem handwerklichem Niveau, schafft reibungslose, oft auch tempo- und timingstarke Abläufe und attraktive, bruchlos eingepasste Tanzszenen (Choreographie: Kinsun Chan). Aber alles läuft auf seltsame Weise ins Leere. Weil „Maskerade“ keine stringente Dramaturgie hat, sich die Szenen oft scheinbar beliebig abwechseln, die atmosphärischen Einsprengsel nicht zwingend sind, es also keinen großen Bogen gibt. Den versucht Kratzer künstlich zu schaffen. Am Anfang liegen Leander und sein Diener Hendrik schlafend in Unterwäsche auf der grauen Bühne, am Ende, nach dem knallbunten Kostümfest, liegen sie in derselben Ausstattung wieder da. Und Leonora ist auch dabei.
Die Übertitel hängen zentral im grauen Bühnenbild von Rainer Sellmaier, einer von aus Türen bestehenden Wänden gerahmten Spielfläche. Während der Maskerade sind es dann Spiegeltüren. Die prominent platzierte Projektionsfläche spielt gelegentlich mit, verrät Regieanweisungen oder wird sogar physisch Teil des Spiels. Vor allem sorgt sie dafür, dass wir den Text doppelt mitbekommen, denn es wird von allen Beteiligten herausragend textverständlich gesungen.
Fehlende Sympathieträger
Die exekutierte Komödien-Mechanik kommt jedoch nicht so richtig von der Bühne. Sie reißt nicht mit. Das Publikum reagiert erst gegen Ende, auch weil Martin G. Berger im dritten Akt ab und an textlich in den Zotentopf gegriffen hat. Ein großes Manko ist, dass es, außer vielleicht dem jungen Liebespaar, keine sympathischen Figuren gibt, niemanden, mit dem man gehen, der einem leidtun, dessen Humor man teilen könnte. Jeronimus könnte so einer sein, der alte eifersüchtige Ehemann, der mit der neuen Zeit nicht mitkommt, der Pantalone aus der Commedia dell’arte. Alfred Reiter singt ihn wunderbar, besonders in seinem großen Couplet, das von der deutschen Spieloper, besonders von Lortzings „Waffenschmied“, zu träumen scheint. Aber er spielt ihn behäbig und ein wenig zu introvertiert, zu geschmackvoll, auch zu unentschlossen. Und er öffnet nicht wirklich ein Fenster in der vierten Wand, adressiert das Publikum nicht. Was in noch stärkerem Maße für Henrik gilt, den brillanten Diener, der am Schluss direkt ins Auditorium spricht. Er ist der, der alles weiß, alles durchschaut und für sich zu nutzen versteht. Natürlich: kein angenehmer Mensch und mit einem, vor allem aus heutiger Sicht, hochproblematischen Frauenbild. Was aber ja für seine literarischen Vorbilder, von Till Eulenspiegel bis Truffaldino, durchaus auch gilt. Er könnte jemand sein, der das Publikum lenkt, mit ihm kokettiert, Zuschauerinnen und Zuschauer in der Handlung zuhause sein lässt. Aber Liviu Holender hat diesen Charme nicht, zeigt ihn uns zumindest nicht. Er streckt seinen feinen lyrischen Bariton klug, um die musikalisch eher dramatische Aufgabe zu erfüllen, aber er strahlt uns nicht an, bleibt in dieser Inszenierung ein subalterner Wüstling.
Monika Buczkowska und Michael Porter, beide mit etwas vibratöser Höhe, erfreuen mit charmantem Spiel und lyrischem Gesang, die Supporting Cast schlägt sich bravourös, auch wenn Samuel Levine als dummer Diener Arv viel Charakterkomik liegen lässt. Wirklich großartig: Michael McCown und Susan Bullock als Jeronimus‘ Freund und Gattin, die sich auf der Maskerade ineinander vergucken. Hier stimmt alles: Timing, Gesangslinie, Ausstrahlung, Eleganz, Projektion.
Womit wir bei der großen Erfreulichkeit des Abends werden. Titus Engel sorgt mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester für eine tolle Wiedergabe der Partitur. Die vielen Tanzrhythmen werden spritzig und schmissig artikuliert, der melodische Reichtum wird geschmackvoll ausgestellt, die vielen Momente, in denen Nielsen das Orchester wie ein heutiges Effektgerät behandelt, trocken aus dem Ärmel geschüttelt. Diese Musik swingt wirklich. Und könnte mitreißen.
Aber gelacht haben wir nicht genug, nicht einmal geschmunzelt. So wird die „Maskerade“ auf unseren Bühnen eine Rarität bleiben, in der man immerhin die ganze Romantik (nach-)sehen und hören kann, das Parlando und – besonders im zweiten Akt – die Dramaturgie von Wagners „Meistersingern“, die kurzen, so sympathischen Melodiebögen aus Verdis „Falstaff“ oder den – im dritten Akt – zur Atmosphäre zusammengebundenen Blütenstrauß der vielen kleinen Figuren wie in Gustave Charpentiers „Louise“ und vieles mehr.