Verhandlung ohne Ergebnis

Epischer Boulevard

Daniel Kehlmann: Die Reise der Verlorenen

Theater:Theater in der Josefstadt, Premiere:06.09.2018 (UA)Vorlage:Gordon Thomas, max Morgan-Witts: Voyage of the DamnedRegie:Janusz Kica

Vielleicht nicht das Stück der Stunde, sicher der Stoff der Stunde: Daniel Kehlmann hat eine furchtbare Episode aus dem Zweiten Weltkrieg für die Bühne bearbeitet.

Natürlich ist die Fahrt der St. Louis ein Stoff der Stunde. 1939 lief das Schiff aus dem Hamburger Hafen aus, an Bord 937 Menschen fast ausschließlich jüdischer Abstammung. Zielhafen war Havanna. Hier sollten die Flüchtlinge Asyl finden, aber Kuba nahm sie genauso wenig auf wie die USA und Kanada. Das Schiff fuhr nach Europa zurück, die Niederlande, Belgien, Frankreich und Großbritannien teilten die Asylanten schließlich unter sich auf. Vermutlich ein Drittel von ihnen überlebte den Krieg nicht.

Die amerikanischen Journalisten Gordon Thomas und Max Morgan-Witts machten die Ereignisse Anfang der 70er-Jahre mit einem dokumentarischen Roman bekannt, Hollywood folgte 1976 mit einem Spielfilm in von Oskar Werner, Faye Dunaway und Max von Sydow angeführter Star-Besetzung. Jetzt hat Daniel Kehlmann für das Theater in der Josefstadt eine Theaterfassung erstellt.

Und die beginnt klug, mit einem Monolog des Ortsgruppenleiters Schiendick, gleichzeitig Steward an Bord der St.Louis und Agent der Spionageabwehr. Er wendet sich ans Publikum, bekennt höhnisch, dass seine Niedertracht nicht ausgedacht, sondern historisch sei und sieht sich dennoch als Opfer der Umstände, gleichsam als Schurken des Schicksals. Es ist dies eine Volte, die aus Kehlmanns Prosa bekannt ist: Er unterminiert die übliche Erzählsituation, lässt den Erzähler ein in die Geschichte und dafür die eine oder andere Figur herausschauen. Dieses Formenspiel ist ein wesentliches Gestaltungsmerkmal von „Die Reise der Verdammten“. Sehr oft wird frontal gespielt, häufig wird das Publikum dabei direkt adressiert. Kehlmann vermittelt seine Story hervorragend, in konsumierbarer Kleinteiligkeit. Und seine Pointen sitzen. Es gelingt ihm die, naturgemäß anrührenden, privaten Schicksale hinter die erschreckende Mechanik der Geschehnisse zurückzudrängen, die politischen Verflechtungen, die Gier und Ich-Bezogenheit sämtlicher Entscheider. Hier geht es jedem immer nur um sich selbst, um den privaten Geldbeutel, die nächste Wahl, die private Karriere, den persönlichen Sieg, den eigenen Hals. Was Kehlmann übrigens vor allem an der kubanischen Administration durchspielt. Die USA, deren Präsident Roosevelt hier auch persönlich eine unrühmliche Rolle gespielt hat, kommen überraschenderweise nur am Rande vor.

Eine weitere Frage stellt sich, obwohl der zweifelsfrei relevante Gegenstand klar, engmaschig und stringent ausgebreitet wird:  Was ist hier die Aufgabe des Theaters? Wo kann es sich wie vom stringenten, auch sprachlich oft sehr sachlichen Prozess der Informationsvermittlung lösen und eigenes Ausdrucksrecht behaupten? Fast scheint es, als wäre dem Autor dieses Problem im Laufe der Arbeit an dem Stoff klar geworden, denn im zweiten Teil des mit 110 Minuten erfreulich knappen Theaterabends stellt er den Kapitän immer stärker in den Mittelpunkt und lässt ihn fast zum tragischen Helden anschwellen, was das Stück in bedenkliche Kitschnähe bringt, auch wenn der, am Tag der Premiere bis 2026 verlängerte, Hausherr Herbert Föttinger seine Figur mit viel Routine hiervon frei hält.

Der Regisseur Janusz Kica begegnet diesem Problem bewusst. Er hat sich von Walter Vogelweider einen durch Metallflächen und -streben abweisenden, aber offenen, so gut wie leeren Raum bauen lassen. In diesen lötet er die Szenen und Szenenblöcke streng und elastisch zusammen und spürt mit geradezu seismographischer Sensibilität die Momente auf, in denen – Theater stattfinden kann. Wenn der suizidale, und gerade deswegen überlebende Max Loewe (Marcus Bluhm) sich mit einem Tänzchen verabschieden darf, wenn in dem Moment, da der Kapitän sich weigert, das Schiff auf Grund laufen zu lassen, damit seine Passagiere gerettet werden müssen, „weil ich ein deutscher Kapitän bin“, ausgerechnet Hans Albers zu singen beginnt, dann beginnt die klug ausgedachte, sauber recherchierte Lose-Blatt-Sammlung Theaterleben zu gewinnen. Gerade weil sich Kica bis auf das sekundenkurze Schlussbild jede plumpe Aktualisierung versagt. Außerdem scheint der Regisseur seine Schauspielerinnen und Schauspieler extrem gut zu können und mit den Bildern zu jonglieren, die das Publikum von ihnen hat.

30 Rollen hat Daniel Kehlmann geschrieben und jeder der 30 besetzten Schauspielerinnen und Schauspieler ist in der Lage, mit Zimmerlautstärke unverstärkt den Raum zu füllen. Die Sätze fließen oder eben nicht, es entstehen Pausen, es wird Stille zugelassen – und Kehlmanns plattitüdennahe Berichtsformeln gewinnen beinahe poetisches Format durch Schauspieler wie Michael Dangl, der den kubanischen Präsidenten als eleganten Polit-Jedermann fast verführerisch glaubwürdig andeutet, oder Peter Scholz, der den Hautarzt, der verzweifelt und zuletzt erfolgreich versucht, seine Kinder von Bord zu bekommen, in ein Gleichgewicht von Energie und Resignation geradezu einnäht. Es ist dies ein Theater der kleinen, klaren Gesten in Körper und Stimme, oft nah am, selten im Klischee, ein sonores Erzähl-Theater, das es auf deutschen Bühnen kaum mehr gibt, auf diesem Niveau wohl auch kaum geben kann. Auf seine Art fängt uns dieses Ensemble hier fast zwangsläufig ein, bringt uns nahe ans Thema heran, lässt uns uns selbst fragen: und wir, was tun wir eigentlich? Was können wir tun? Was würden wir tun, wenn…? Dafür reicht Daniel Kehlmanns Spielvorlage also offensichtlich aus.