Alessio Monforte und Yu-Chi Chen in Giuseppe Spotas "Requiem"

Endzeit-Übergänge

Giuseppe Spota/Erion Kruja: Requiem/The Lost Ones

Theater:Musiktheater im Revier, Premiere:15.01.2022 (UA)Musikalische Leitung:Valterri RauhalammiKomponist(in):Wolfgang Amadeus Mozart, Eric Whitacre, Erion Kruja

Mozarts „Requiem“ lässt sich getrost als morbider Hit bezeichnen. Wohl vor allem dank seiner emotionalen Dramatik erfreut sich das Werk auch bei Choreographen verschiedenster Stilrichtungen einer konstanten Beliebtheit – zumal in pandemischen Zeiten, in denen sich deutschlandweit wieder mehr und mehr Tanzabende mit dem Thema Vergänglichkeit auseinandersetzen (wie zuletzt zum Beispiel Nanine Linning mit „Anima Obscura“ am Theater Bielefeld). Dass der so jung verstorbene Komponist sich bereits Jahre zuvor mit der eigenen Sterblichkeit beschäftigt hat und dieser mit großer Akzeptanz entgegen sah (u. a.: „sein Bild [hat] recht viel beruhigendes und tröstendes“), geht aus einem Brief Mozarts an seinen Vater hervor (und ist nachzulesen im Programmheft). Giuseppe Spota, Direktor der MiR Dance Company Gelsenkirchen, hat nun in seinem „Requiem“-Tanzabend, ausgehend von Mozarts eigener Perspektive auf den Tod, die letzte Reise des Menschen motivisch ausgestaltet – hier in Gestalt von M. (Yu-Chi Chen), dem Spota mit dem „Schicksal“ (Alessio Monforte) sowie den „Wegbegleiter*innen“ (Ensemble) verschiedene Gefährten an die Seite stellt.

Mozarts meets Materialfülle

Dafür hat Spota, der auch die Ausstattung für „Requiem“ verantwortet, den großen Materialeinsatz auf der Bühne nicht gescheut – sieben große schwarze Halbkugeln werden über die gesamten 55 Minuten hinweg über die Bühne bewegt, dienen als Balance-Scheibe, Reifrock oder planetarische Assoziation, und auch die Kostüme sind bisweilen üppig: In dicken, über und über mit strohartigen Fransen bedeckten Ganzkörpermänteln tanzen beispielsweise die „Wegbegleiter*innen“ zu Beginn über die Bühne, legen die Schichten – deren eigene Raschel-Akustik nicht ganz unproblematisch ist, weil sie neben der Musik eher stört – erst nach und nach ab. In Kombination mit großen Sprüngen und rituell anmutenden Stampfrythmen erinnern diese Gruppentableaus mal an archaische Beerdigungsrituale, mal an die Haltung Betender, während „M.“ und „das Schicksal“ parallel dazu in zarten, langsamen Duetten ihre Wege kreuzen. „M.“ ringt dabei zunächst mit dem „Schicksal“, bis sich diese Dynamik immer mehr umkehrt und „M.“ zuletzt „das Schicksal“ selbst hebt und trägt. Die wohl eindrücklichste Idee des Abends ist die bühnenhohe Linie aus Laserlicht, die den vorderen vom hinteren Bühnenteil trennt, den Übergang ins Jenseits markiert und in Kombination mit bewegten Körpern einige spektakuläre Bilder generiert. Spota legt der Choreographie insgesamt ein durchaus komplexes Bewegungsmaterial zugrunde, wohl um der vielstimmigen Musik tänzerisch auf Augenhöhe zu begegnen. Die tänzerische Leistung des Ensembles ist dabei durchweg tadellos, während darstellerisch vor allem Alessio Monforte heraussticht.

Die unter gekonnter Führung von Valtteri Rauhalammi dirigierte Neue Philharmonie Westfalen und der Opernchor des MiR (Einstudierung: Alexander Eberle) sowie die Sänger:innen (Heejin Kim, Almuth Herbst, Khanysio Gwenxane und, in der Premierenvorstellung außer der Reihe, Stefan Sevenich) agieren derweil ja auch noch kraftvoll im Hintergrund der Bühne. Und so lässt sich ahnen, worin eine fundamentale Schwierigkeit des Stücks besteht: Denn gerade da, wo Ausstattung und Tanz der Musik besonders überbordend begegnen wollen, wirkt die Bühne zeitweise überfrachtet. Dass Mozarts „Requiem“ nicht gerade eine Musik ist, die sich in den Hintergrund schieben ließe – im Gegenteil ist sie ja geradezu raumgreifend –, trägt dazu erschwerend bei. Oftmals erzählt der Tanz außerdem seine eigenen Geschichten jenseits der Musik, begegnet ihr mit einer eigenen Dynamik – und verliert dadurch mitunter den Anschluss zu ihr. In den Schluss-Szenen gelingen dann wieder große Momente: Vorsichtig befreit „M.“ das „Schicksal“ aus seinen dick gepolsterten Kleidungsschichten, bis nur noch ein hautenger, transparenter Stoff übrig bleibt, auf dem der eingangs erwähnte Brief Mozarts niedergeschrieben ist. Dazu greifen die Aktionen der „Wegbegleiter*innen“ die Dramatik der Musik gerade zum Schluss stärker auf, ehe zuletzt mit Eric Whitacres Choral „Sleep“ ein musikalischer Kontrapunkt gesetzt wird.

Gelungene Schlichtheit

Deutlich reduzierter geht Erion Kruja im zweiten, mit etwa 30 Minuten deutlich kürzeren Teil des Abends vor. Seine Choreographie „The Lost Ones“ beschäftigt sich nicht mit dem Tod selbst, sondern widmet sich eher dem Verlustmotiv der Hinterbliebenen und versucht, choreographisch die Übergänge zwischen Gemeinschaft und Vereinzelung auszuloten. Die in weißen Alltagskleidern agierenden Tänzer:innen lässt Kruja in gleißendem Licht, das praktisch als Bühnenbild fungiert, durch Gruppenformationen und Einzelparts wirbeln, die neben Trauer auch Verzweiflung oder aber, gerade durch zahlreiche Rückbeugen und dem Himmel entgegen gestreckte Hände, sehnliches Erwarten assoziieren lassen. Mehrmals rennen einzelne Tänzer:innen verloren, gar stöhnend oder schreiend um die Gruppe der anderen herum wie Ausgeschlossene, und zumal diese Momente der Isolation wirken vor dem Hintergrund der aktuellen Pandemiesituation wie treffliche Abziehbilder einer manchmal verzweifelten Gesellschaft. Auch Kruja hat selbst die Kostüme entworfen, das (intensive) Licht gestaltet und obendrein die elektronische Musik selbst komponiert (wie schon in anderen Arbeiten), die ohne Gesang auskommt und mit wellenartigen, wummernden Melodien die Choreographie vorantreibt. Der gebürtige Albaner Kruja gilt in der deutschen Tanzszene als vielversprechende Neuentdeckung, wenngleich er international längst kein Unbekannter mehr ist. Dass Kruja als vormaliger Tänzer lange mit Hofesh Shechter gearbeitet hat, ist ihm auch als Choreograph anzumerken, wenngleich er in seinen Werken einen ganz eigenen ästhetischen Weg beschreitet. Diese Arbeit für das MiR zeigt, dass er als Choreograph zwar noch am Beginn seines Schaffens steht, aber auch, dass Vielversprechendes von ihm zu erwarten ist.