Foto: John Lundgren (Herzog Blaubart) und Nina Stemme (Judith) an der Bayerischen Staatsoper © Wilfried Hösl
Text:Klaus Kalchschmid, am 2. Februar 2020
Immer wieder ist es ein überwältigender Moment, wenn Judith mit einem gleißenden hohen C zur Begleitung des ganzen Orchesters plus Orgel und je vier Posaunen und Trompeten auf der Bühne im Fortefortissimo die fünfte Tür von Herzog Blaubarts Burg öffnet: „In glitzernder Pracht ergießt sich das Licht in den Raum. Geblendet hält Judith die Hände vor die Augen“, heißt es im Libretto. In Katie Mitchells Regie hat sie da längst eine große Brille auf und sitzt im Flugsimulator. Der kann auf einer Leinwand hinter ihr endlich einmal das im Überfluss zeigen, wovon im Dialog mit Blaubart danach die Rede ist: Wälder, Flüsse, Berge. Aber so wie die Kamera wackelt und sich überschlägt, wird es nicht nur Judith schwindlig, die vor Schrecken stammelnd antwortet, während sich das Bild verpixelt und in Farbstreifen auflöst.
Was man da als Film auf kleiner Leinwand sieht, ist eine schöne und sinnige Reminiszenz an die ersten 35 Minuten des Abends. Denn zu Beginn ist in der Bayerischen Staatsoper nicht irgendein anderer Einakter zu sehen, sondern ein Stummfilm auf Großleinwand zur Musik von Bartóks „Konzert für Orchester“. Er erzählt eine mögliche Vorgeschichte der Oper: Judith wird als Kriminalkommissarin Anna Barlow eingeführt, die mittels einer Escort-Website namens „Senior Queens“ undercover an einen mutmaßlichen Serienmörder herankommen will. Mit Blaubarts drittem Opfer, einer Fotografin, stand sie offensichtlich in Kontakt und erhielt per Mail ihre Bilder des nächtlichen London. Sie grenzen das Feld des Täters ein, der sich als Kunde „Blaubart“ nennt. Der spannende, originelle Film, für dessen Realisierung Grant Gee verantwortlich ist und der schon Blaubarts Monitor mit Überwachungskameras zeigt, aber nie scharf sein Gesicht, deutet vieles an, lässt aber auch einiges offen. Und er ist anspielungsreich, so wenn das Zitat des „Tränensees“ nach der Öffnung der sechsten Tür im „Konzert für Orchester“ erklingt, während Blaubarts drittes Opfer aus einer mit einer betäubenden Essenz versetzten Wasserflasche trinkt. Musik und Film sind selten deckungsgleich, sondern beleuchten sich wechselseitig, genau festgelegt ist nur, dass mit jedem der fünf Sätze auch ein neuer Abschnitt des Films beginnt. So wird mit dem „Allegretto scherzando“ die Kommissarin eingeführt.
Danach geht unmittelbar der Vorhang auf: Judith ist gerade mit dem Auto in der Tiefgarage Blaubarts angekommen: „Wir sind am Ziel!“, singt er in der ungarischen Originalsprache. Doch statt mit der Blondine im Leoparden-Pelzmantel über dem kleinen Schwarzen (Kostüme: Sussie Juhlin-Wallén) die Treppe hinauf in die Wohnung gehen zu können, muss sich der Mann der Frau beugen, die erst einmal auf der Inspektion der Kellerräume besteht. Dabei gibt sie vor, mehr Licht ins Dunkel von Blaubarts Festung zu lassen. Zugleich bricht sie damit in sein düsteres Inneres ein, in das er nichts von außen dringen lassen will. Nacheinander öffnet Judith die sieben Türen seiner „Ich-Festung“ und sieben Räume schieben sich von rechts nach links als halber Bühnenausschnitt ins Zentrum: ein nicht mehr benutzter Operationssaal (Folterkammer), Gewehre hinter Gitter (Waffenkammer), der Tresorraum (Schatzkammer), ein unterirdisches Gewächshaus (der geheime Garten), der besagte Flugsimulator (die weiten Lande), eine alte Gemeinschaftsdusche (Tränensee). Alle Räume (Bühne: Alex Eales) starren vor Dreck, die Farbe an den Wänden ist abgeplatzt, Rost breitet sich aus. Schließlich erreicht Judith hinter der siebten Tür das morbide „Allerheiligste“. Auf den ersten Blick ist das endlich ein schöner Raum im Stile des Art déco mit großen stilisierten Kreuzen an der Wand, wie sie als kleiner Anhänger auf den Fotos seiner drei entführten Frauen der Grund waren, dass Blaubart ausgerechnet sie als Opfer erkor. Auf den zweiten Blick ist auch das eine Gruselkammer, zumal man drei Frauen sieht, von denen zwei gefesselt sind. Damit Blaubart diesen Raum preisgibt, muss er schon mit Waffengewalt dazu gezwungen werden: Bei der letzten Umarmung entwendet Judith ihm die Pistole, von der sie am Ende auch Gebrauch macht, nicht ohne sich zu den letzten, leise verdämmernden Akkorden langsam die blonde Perücke von den schwarzen Haaren zu ziehen, physisch wie psychisch ungemein erschöpft.
So konkret und gekonnt Katie Mitchell eiskalte Ermittlungsarbeit inszeniert, so mächtig und dunkel glühend, manchmal aufbrechend wie Lava, bleibt die Musik, vom Bayerischen Staatsorchester unter Oksana Lyniv mit einer Intensität und Schönheit gespielt, die unter die Haut geht. In Spiel und Singen von Nina Stemme und ihrem schwedischen Landsmann John Lundgren bleibt ebenfalls viel erhalten vom emotionalen Krimi zwischen Mann und Frau, bei dem man nicht weiß, wie sehr Judith als eigentlich rational denkende und immer wieder Spuren und Beweismaterial sichernde Polizistin sich in ihren widerstrebenden Gefühlen zu diesem geheimnisvollen Mann nicht auch zunehmend verliert. Jedenfalls zeigt Nina Stemme mit lodernd hochdramatischem Sopran eine große, vielleicht nur halb vorgetäuschte Anteilnahme, aber auch die brennende Neugier Judiths, die ihr in der Oper zum Verhängnis wird. Jedenfalls ist sie keine junge, unerfahrene Frau mehr, die gerade den Verlobten hat sitzen lassen (wie es das Libretto erzählt). Andererseits ist das Verführungspotential eines differenzierten Heldenbaritons wie dem von Lundgren samt dessen viriler Erscheinung ja nicht gerade gering.
Dass der mutige Spagat gelingt zwischen der neu und heutig gefassten Geschichte, die Judith nicht mehr als Opfer zeigt, und der alten suggestiven Partitur, samt ebenso symbolistischem wie konkreten Text, ist allen Beteiligten zu danken, nicht zuletzt aber der Kraft von Bartóks Musik. Sie weist von der 1911 entstandenen Oper bis zum späten, ein Leben zusammenfassenden „Konzert für Orchester“ aus dem Jahr 1943 eine große Kontinuität auf, auch wenn der zeitgeschichtlich und autobiographisch gefärbte Rückblick des 62-Jährigen, der mitten im zweiten Weltkrieg in die USA emigrieren musste, stilistisch aufgebrochener ist als die Oper. So kennzeichnet ein vulgär klingendes Zitat aus Hitlers Lieblingsoperette, Léhars „Die lustige Witwe“ („Dann geh‘ ich ins Maxim“), bitter ironisch nazistischen Terror, während das Aufscheinen einer Melodie aus einer ungarischen Operette den Untergang der alten Welt erzählt. Wie perfide, dass gerade in diesem musikalischen Spannungsfeld Blaubart einer ohnmächtigen Frau die Nägel rot lackiert, sie trocken bläst und dann die Hände in Zellophan einwickelt.
Die Aufführung von „Judith“ am Freitag, 7. Februar (18.30 Uhr) wird kostenlos live auf STAATSOPER.TV übertragen und ist vom 9. Februar (12 Uhr) bis 10. März 2020 (11.59 Uhr) auf der Seite abrufbar.