Foto: Szene aus „Die Nase” an der Bayerischen Staatsoper © Wilfried Hösl
Text:Joachim Lange, am 25. Oktober 2021
Nicht zum ersten mal hat Kirill Serebrennikov vom erzwungenen Homeoffice in Moskau aus Regie geführt. Diesmal an der Bayerischen Staatsoper in München. Dass er wieder nicht vor Ort arbeiten konnte, hat mal nichts mit den Einschränkungen wegen der Pandemiebekämpfung zu tun. Eher schon mit der Bekämpfung vermeintlicher oppositioneller Infektionen, vor denen sich das zunehmend autoritär agierende Regime des gegenwärtigen russischen Präsidenten schützen will. Im Land darf sich der aufmüpfige Theatermacher und Regisseur inzwischen wieder frei bewegen, sogar fürs Ausland arbeiten. Dorthin fahren darf er vorerst aber noch nicht. In seinem Fall beschränkt sich die hierzulande immer schnell proklamierte Solidarität mal nicht auf verbale Bekundungen. Man gibt ihm Arbeit. Er macht Filme, schreibt Stücke, die aufgeführt werden. Und er inszeniert Oper. In Stuttgart, Berlin, Zürich oder Hamburg kennt das Publikum Arbeiten des Russen. Sogar an der Wiener Staatsoper hat er mit einem hochpolitischen „Parsifal“ (fürs Streamingangebot im Lockdown und mit Starbesetzung!), Furore gemacht.
Dass Nikolaus Bachlers Nachfolger an der Spitze des deutschen Nobelopernhauses in München, der aus Lyon kommende Serge Dorny und sein neuer GMD Vladimir Jurowski die Spielzeit mit Dmitri Schostakowitschs 1930 uraufgeführter Jugendoper „Die Nase“ eröffnen, ist ambitioniert. Dass sie dafür Serebrennikov engagiert haben, ist eine noble Entscheidung, mit einer naheliegenden Chance auf künstlerischen Mehrwert. Schon, weil seine russische Binnenperspektive per se erhellend wirkt, wenn ein Stück auf die Bühne kommt, in dem das zaristischen und stalinistischen Erbe durchscheint, das im Russland Putins fortwirkt.
Russische Kälte auf Umwegen
Im München geschieht das auf dem Umweg einer Verdüsterung. Er entfesselt nicht, wie eigentlich fast alle Inszenierung dieses immer noch erstaunlich radikal und frisch wirkenden Werkes, die befreiende Kraft einer überhöhten Groteske (wie etwa Barrie Kosky vor drei Jahren an der Komischen Oper oder Karin Beier in Hamburg im Jahr drauf). In München verströmt die Bühne (bei der dem Regisseur und Ausstatter ein Team um Co-Regisseur Evgeny Kulagin zur Seite stand, in dem Olga Pavluk bei der Bühne, und Tatyana Dolmatovskaya bei den Kostümen mitwirkten) buchstäbliche russische Kälte und metaphorische Tristesse. Ein grauer Innen-und Außenraum verwandelt sich im Handumdrehen für jede der 16 Szenen. Eiszapfen und Schneeberge überall. Mal fährt die Polizeistation samt vergitterter Zelle herein, in der geprügelt wird und in der den Arretierten mit Vorliebe die Nase abgeschnitten wird. Mal wird von einer riesigen Zauberhand die Silhouette von St. Petersburg an die Wand gemalt. Dann wieder werden beim Eisangeln Leichenteile aus der zugefrorenen Newa gezogen. Zur Ausrüstung der (zu-)schlagkräftigen Polizeitruppe (die ihre Uniformjacken offensichtlich aus deutschen Beständen übernommen hat, ohne die Aufschrift Polizei ins Kyrillische zu übertragen) gehören neben ihren locker sitzenden Knüppeln und Schutzschilden jede Menge Absperrgitter. Bei der Suche nach der berühmten Nase Kovaljovs und deren öffentlichen Auftritten als Staatsrat (als Schlipsträger und seinem Gesicht samt eigener Nase fällt er auf) kommt es nämlich zu Massendemonstrationen. Mit Losungen wie „Ja“ oder „Nein“. Videoeinblendungen lassen keinen Zweifel aufkommen, dass hier das Russland von heute gemeint ist.
Zwei besonders eindrucksvolle Bilder umrahmen die allgemeine eisig graue Tristesse. Laut wird es, wenn die neun Schlagzeuger für ihren Auftritt nicht nur Jurowskis meist zelebrierte, betont melancholische Zurückhaltung akustisch durchbrechen. Szenisch rollt das wie schweres Gerät (zum Schnee- und Demonstrantenräumen) mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf die Rampe zu. Zum Schluss wird es unendlich traurig. Während Kovaljov die Rückkehr seiner Nase in sein Gesicht ausgiebig begossen hat, sieht man im Fenster einer Plattenbaufassade, wie sich gerade jemand erhängt. Den letzten Ton des Abends liefert das Platzen des roten Luftballons eines Mädchens, den man gerne für ein Zeichen der Hoffnung gehalten hätte. So erfahrungsgesättigt authentisch das auch wirken mag – zum Problem wird nicht das personifizierte Eigenleben der einen titelgebenden Nase, sondern die vielen Nasen, die jeder als Statussymbol im Gesicht trägt. In dieser Binnenlogik ist es eine finstere Pointe, dass die (brav) maskierten Zuschauer im vollbesetzten Saal als Nasenlose irgendwie zum Teil dieser Hierarchie werden. So wie die Nasenlosigkeit im Saal nervt, so wirkt die Vielnasigkeit der Massen auf der Bühne vor allem wie eine Verunstaltung, die mehr vernebelt, als aufklärt.
Riesiges Ensemble
Um sich gegen den optischen Druck der dominierenden Uniformen und der Nasenmaskierung mit erkennbarem Profil durchzusetzen, bedarf es schon so eindrucksvoller Darsteller wie Boris Pinkhasovich als Kovaljov, Sergei Leiferkus als Ivan oder Doris Soffel als divenhafter, aus der Zeit gefallener Alter Dame. Abgesehen von der logistischen Leistung, das Riesenensemble (samt des von Stellario Fagone einstudierten Chores) auf der Bühne mit dem Bayerischen Staatsorchester im Graben zu koordinieren, führt sich Vladimir Jurowski in München als ein Dirigent ein, der da wo man groteske Übersteigerung vermuten würde, auch mit sehr verhaltener Melancholie, Abgründen nachzuspüren vermag. Der anwesende Teil des Regieteams trug T-Shirts mit dem Bild des Regisseurs. Er selbst verbeugte sich auf dem Bildschirm vor einem Premierenpublikum, das Ambition und Anstrengung angemessen honorierte.
Ab Anfang November 2021 steht für 30 Tage ein kostenloses Video-on-Demand auf STAATSOPER.TV zur Verfügung.