Foto: In Barrie Kosyks Inszenierung liefert Falstaff (Christopher Purves) eine beeindruckende Kochshow ab. © Monika Rittershaus
Text:Roberto Becker, am 2. Juli 2021
An diesem Abend dringt es aus jedem Winkel der romantischen Bühne im Hof des erzbischöflichen Palastes in Aix-en-Provence. Regisseur Barrie Kosky mag offensichtlich diesen „Falstaff“. Und er hat ein feines Gespür für die Weisheit und den Lebenswitz, der in Verdis Alterswerk steckt. Daniele Rustioni und die Musiker des Orchestre de l’Opéra Lyon sowie der von Roberto Balistreri einstudierte Chor, die quasi nebenan daheim sind und nur eine kurze Anreise hatten, sahen das hörbar genauso.
Das Schlusswort des über achtzigjährigen Verdi war eben kein Ausweis versiegender Kräfte, sondern von Lust an Neuem und der Fähigkeit, quasi Türen zu öffnen. Auch wenn er die Räume dahinter selbst nicht mehr erkunden konnte. Sein „Falstaff“ ist ein Meisterwerk, das beim ersten Hören in manchen Ohren vielleicht etwas sperrig wirkt, weil es ohne das große Rampenschmettern auskommt. Die Musik wird jedoch bei jedem Wiederhören „besser“, sie reift wie guter Wein. Wenn dann noch die richtigen ‚Sommeliers‘ am Werke sind (wie der Chef der Komischen Oper und Regiekönner auf vielen Gebieten und der Orchesterchef aus Lyon), dann kann das Gesamtkunstwerk ziemlich lukullisch werden. Ein hübscher Einfall waren die geradezu erotisch ins Dunkle der kurzen Umbaupausen genüsslich verlesenen Rezepte, bei denen schon die genießerische Diktion und die Bruchstücke von Speisekartenfranzösisch ausreichten, um auch den nichtfranzösischen Zuhörern das Wasser im Mund zusammenlaufen zu lassen. Ein Gag zuerst fürs heimische Publikum und leider ohne Übertitel, aber très élégant.
Sicher mag es vollendetere Stimmen für die Rolle des Sir John Falstaff geben, aber so wie der Brite Christopher Purves ihn spielt, mit so viel augenzwinkerndem Selbstbewusstsein, mit so viel Hingabe und unverwüstlicher Lebenslust, sieht man das selten. Markant und durchschlagskräftig ist der Ford von Stéphane Degout, jungenhaft sympathisch der Fenton von Juan Francisco Gatell. Bei den Damen behaupten sich vor allem Carmen Giannattasio als Alice Ford und Daniela Barcellona als Mrs. Quickly.
Die traditionelle Hauptspielstätte des südfranzösischen Festivals hat zwar atmosphärischen Charme auf ihrer Seite, fordert aber als Bühne im engeren Sinne das Handwerk der Regisseure, die Besinnung auf die spielenden Darsteller, das Charisma des Kammerspiels. Also hat Koskys bewährte Ausstatterin Katrin Lea Tag einen Einheitsbühnenraum vor die historische Fassade gesetzt. Mit übermannshohem, großornamentigem Tapetensockel, Seitengassen für Auf- und Abgänge und der Möglichkeit, die Rückwand zu öffnen, wenn Ortswechsel angedeutet werden sollen.
Es fängt mit einer veritablen Kochshow Falstaffs an. Der kann offenbar exzellent kochen und macht das mit Hingabe. Dass er dabei offenbar nichts unter der weißen Schürze anhat, passt irgendwie zu ihm. Es mag etwas derb sein, aber der Effekt, wie er seine beiden Kumpanen mit dem Aufblitzen seines nackten Hinterteils in ein Schockzittern versetzt, ist hinreißend. Wenn er dann in Vorfreude auf seine beiden geplanten Eroberungen von Alice und Meg (Antoinette Dennefeld) den Hüftschwung eines alternden Popstars unter der Langhaar-Perücke probt, dann ist das kein bisschen lächerlich angesichts der Herrschaften, die sonst noch an den Wirtshaustischen sitzen und mehr tot als lebendig wirken. Nicht mal sein gewagter, mit der Tapetenmusterung abgestimmter Ausgehanzug macht ihn zum Affen. Selbst da hat er einen gewissen Chic. Sein Eroberungsfeldzug in Sachen Ehefrauen von Windsor ist hier jedenfalls keineswegs Teil einer von vorneherein verlorenen Schlacht. Dieser Falstaff ist eher ein Entwurf dafür, wie es mit zunehmenden Alter auch gehen könnte… Vielleicht war der Mann sogar mal ein Starkoch und bricht jetzt immer mal aus der Tristesse der trüben Seniorenresidenz aus.
Die Damen haben es mehr mit dem Backen, bereiten Torten und präsentieren sich dann sozusagen als die Kirsche obendrauf. Wenn Falstaff sich bei der Verfolgungsjagd unterm Tisch verbirgt und dann mal nicht in dem berühmten und eigentlich obligaten Wäschekorb, sondern in einem Wäschesack versteckt wird, macht das gar nichts.
Dass bei der finalen Begegnung von Falstaff mit den Einwohnern von Windsor die Opulenz des mittsommernächtlichen Durcheinanders mehr aus der Musik als von der Szene kommt, passt dann aber auch irgendwie, weil sie alle im Grunde schon wissen, was die Schlussfuge auf den Punkt bringt und was Falstaff schon lange vor ihnen wusste. Tutto nel mondo e burla.