Szene in "Der Silbersee"

Ein wenig Traurigkeit und viel Sarkasmus

Kurt Weill: Der Silbersee – Ein Wintermärchen

Theater:Deutsches Nationaltheater Weimar, Premiere:21.01.2023Regie: Andrea MosesMusikalische Leitung:Friedrich Praetorius

Am Ende schwirrt Glück in silberner Lametta-Gala. Paare aller geschlechtlichen Couleurs bilden ein sanft bewegtes Meer. Indessen brausen Spielzeug-Teslas mit Antennensteuerung nach vorne. An den Seiten reihen sich in übergroßen Projektionen menschliche Arbeiter-Avatare. Schöne neue turbo-kapitalistische Welt mit Renditegarantie! Was soll’s, dass in Jan Pappelbaums schwarzem Bühnenkasten sich industrieller und dekorativer Konsum-Tand ansammelt? Was soll’s, dass Meentje Nielsens Kostüme schreiend bunt Arbeitswelten, faden Alltag und Luxus-Gehabe attraktiv verzaubern?

Andrea Moses‘ Inszenierung ist am DNT Weimar ein bildschöner, aber hinter den schönen Bildern perfider Kommentar zur Gegenwart und nahen Zukunft: Zeitgeschichte als antihumaner Supergau aus Wachstum und Massenbeschwichtigung. Ohne es eigens zu erwähnen, zieht Moses mit den düsteren, in der nahen Zukunft angesiedelten Visionen des französischen Romanciers Michel Houellebecq an einem Strang, nur entschieden unterhaltsamer und vor allem operettenhafter. Vollkommen korrekt. Denn auch Burleskes steckt in „Der Silbersee. Ein Wintermärchen“, der letzten Zusammenarbeit des Dramatikers Georg Kaisers mit Kurt Weill. Die musikalische Seite zieht in Weimar mit, ist erfüllt von Charisma und hat maliziöse Süße.

Vor fast genau 90 Jahren war die Uraufführung der ‚Schauspieloper‘, am 18. Februar 1933 – in Erfurt, Magdeburg und Leipzig, wo Detlef Sierck (späterer Hollywood-Name: Douglas Sirk) inszenierte und Gustav Brecher dirigierte. Die Nationalsozialisten rasselten nach der Machtübernahme am 30. Januar 1933 noch bedrohlicher mit ihren ideologischen Ketten und beendeten mit wenigen Schlägen das pulsierende, quicklebendige, queere Kulturleben der Weimarer Republik. Insofern ist „Der Silbersee“ ein großer Abgesang, welcher den Erfolg Kurt Weills in Deutschland kurzfristig bestätigte. Bereits am 21. März 1933 war der jüdische Komponist auf dem Weg in die Emigration.

Über die Genre-Grenzen hinaus

Bänkelton und politische Aphorismen, Modernität und Poesie prallen in diesem Opus summum aufeinander. Aber vor allem schaffen vielen Theatermacher*innen die ausgedehnten Dialoge im Wechsel mit nur zwölf exzellenten, aber auch filigranen Musiknummern intensive Pein. Beides zu verbinden ist sehr schwer – und gerade das gelang am DNT außerordentlich gut.

Dieses hat sich in den vergangenen Spielzeiten und während der Pandemie insgeheim zu einer brillanten Spielstätte für anspruchsvolle Schauspiele mit viel Musik oder Musiktheater mit viel Schauspiel entwickelt. Auch „Der Silbersee“ gehört dazu: Szenisch, weil Operndirektorin Andrea Moses auch Videos mit dramaturgischem Geschick und Komödiantik einzusetzen vermag, und musikalisch, weil der neue zweite Kapellmeister Friedrich Praetorius ein elegantes Händchen für Kurt Weill beweist.

Das Ensemble dazu passt optimal: Heike Porstein hat als Fennimore die Stimme eines Engels, der ohne prätenziöses Röhren auch unartig ist und kredenzt auf Rollerskates die Sektgläser für die beiden Verlierer Severin und Olim. Camila Ribero-Souza gibt als Frau von Luber mit Akzent und Grandezza eine neofeudale, großkapitalistische Bitch vom allerfeinsten. Und auf gleicher Grandeur-Ebene findet sich die Herrenriege: Uwe Schenker-Primus als Landjäger und Ordnungshüter Olim, der den von ihm gestellten und verletzten Diebeshäftling Severin im Hospital besucht und die Freundschaft anträgt. Alexander Günther, der als durch Armut zum Kriminellen gewordener Severin neben vielen Dialogen bravourös einen ins Heldentenorale spielenden Song anstimmt. Dann noch Jörn Eichler in den Rollen von Elon Musk alias Lotterieagent, Diener und vor allem als Baron Laur, seines Zeichens Bettgespiele der am Schluss triumphierenden Frau von Luber. Auch die kleineren Partien machen sich bestens.

Ort voller Geschichte

Andrea Moses gelingt zudem etwas, was der epischen Parabelhaftigkeit dieses modernen Volksstücks eigentlich entgegensteht und damit den Netflix- und Dokusoap-verwöhnten Publikumsaugen rasant schmeichelt. Sie und Dramaturg Michael Höppner unternahmen nämlich an einem tristen Herbsttag, der mit trüber Stimmung die Dinge ins richtige, weil wahre Licht rückte, einen Ausflug an den „Silbersee“-Originalschauplatz und Wohnort Georg Kaisers in Berlin-Grünheide.

Wenn der Opernchor des DNT (Einstudierung: Emanuel Winter) als apotheotische Silbersee-Community am Ende so glitzernd wirkt wie eine frisch polierte Auto-Karosserie, hat das seinen Grund. Business Insider berichtete im März 2022: „In Grünheide wurde am Dienstag offiziell die Fabrik des US-Autobauers Tesla eröffnet. Zu diesem Anlass kam auch CEO Elon Musk. Von Politikern wurde die Fabrik gelobt. […] Die erste europäische Tesla-Fabrik in Grünheide, die auf 500 000 Fahrzeuge jährlich ausgelegt ist, ist eine wichtige Säule der Zukunftsstrategie von Tesla.“ Fragen erübrigen sich.

In Grünheide gibt es Spuren deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dort lebte der Sozialismus-Utopiker Robert Havemann und befand sich ein Außenlager des KZ Sachsenhausen. Mit einer fast übergriffigen Zeichenvielzahl ist das alles im Bühnenbild und im szenischen Spiel zu sehen. Dabei ist der Mundraub einer Ananas, die durch deren Status als Luxusprodukt das Strafmaß für den straffälligen Severin vergrößert ganz große deutsche Komödie. Helmut Dietl hätte an der mit schwarzem Klebeband an Säule gefesselten Rewe-Verkäuferin seine helle Freude gehabt.

Die gefilmte Verfolgungsjagd durch die Ladenpassage neben dem DNT genügte gehobenen Unterhaltungsansprüchen. Es ist ein Kabinettstückchen par excellence, wie Nahuel Häfliger als Arzt die Krankenschwester Isabel Tetzner mit Fachjargon anbaggert und einseift, ihm dabei die Späne aus den Augen schießen und er sich trotzdem nicht Unzüchtiges zuschulden kommen lässt. Um Lichtjahre entfernt also von dem, was Episches Theater sein sollte, könnte oder müsste, macht dieser „Silbersee“ nur wenig Traurigkeit und glänzt dafür mit Sarkasmus. Dieser überlagert wie Schutzlack einen ätzenden Pessimismus und wird zur wunderbaren Theaterbescherung.