Foto: Szene mit Carl-Ludwig Weinknecht, Antonia Schirmeister, Benjamin Schardt und Anna Sonnenschein © Marco Piecuch
Text:Ulrike Kolter, am 4. November 2021
Am Wolf scheiden sich die Geister, nicht nur im Märchen: Abschießen oder schützen? In Deutschland unterstehen die Fleischfresser bekanntlich dem Bundesnaturschutzgesetz, nachdem sie im 19. Jahrhundert als ausgerottet galten. Im Märchen hingegen darf die Bedrohungslage anders bewertet werden: Da interessiert kein Artenschutz, sondern vielmehr die Angst dem Fremden, bedrohlich Unbekanntem gegenüber.
Einsam den Mond anheulen
So wird am Rheinischen Landestheater in Neuss das Grimm’sche Märchen in Sergej Gößners Überschreibung „Rotkäppchen und Herr Wolf“ ganz zeitgemäß umgedeutet, was den kinderfreundlichen Nebeneffekt hat, dass jegliche Brutalität von Gefressenwerden und Bauchaufschneiden entfällt. Hier widerspricht Rotkäppchen der von der Dorfgemeinschaft antizipierten Bedrohung durch einen plötzlich aufgetauchten Wolf. Man sollte den doch erstmal kennenlernen, ehe man vorverurteilt! Und so macht sich das rotgelockte Mädchen (Anna Sonnenschein) trotzig auf in den Wald, wo sie wie erhofft dem merkwürdig parlierenden Herrn Wolf (Antonia Schirmeister) begegnet. Ergraut im Haar, mit Zylinder und Schnauzbart, berichtet Herr Wolf höflich tänzelnd von seinem Schicksal, der letzte seiner Spezies aus dem verlassenen Dunkelwald zu sein und nun einsam den Mond anheulen zu müssen, der schon sichtlich dunkel geworden ist, weil ihm das Wolfsgeheul fehlt. Voll Mitleid und sozialem Gerechtigkeitssinn will Rotkäppchen ihn mit zu ihrer Großmutter nehmen, die hätte schließlich immer einen Rat… Und den hat die patente, ewig strickende Dame dann auch (in köstlicher Darstellung von Benjamin Schardt).
Die Geschlechter werden also per se aufgehoben, die Oma ist ein Mann, der Wolf eine Frau, nur der Jäger (Carl-Ludwig Weinknecht) und Frau Eberle (Katrin Hauptmann) sind ganz klischeegetreue Dorfbewohner und geben das heimlich verliebte Pärchen. So entspinnt sich ein irrwitziges Verwechslungsspiel im Märchenwald, in dem nicht nur die Wände von Großmutters Haus rosa bestrickt, sondern auch die aus Holzstreben geformten, verschiebbaren Tannenbäume mit weißen Wollknäueln verziert sind (Bühne und Kostüme: Nina Wronka).
Gemeinsam den Mond anheulen
Was zunächst schwer nach pädagogisch wertvoller Toleranzkeule klingt, gerät in der liebevoll-pointenreichen Inszenierung von Hausherrin Caroline Stolz und zu den eingängigen Songs von Timo Willecke derart witzig, dass nicht nur die jungen Gäste begeistert sind. Final heulen alle (inklusive Publikum) den blassen Mond an – und der Glitzerkonfettiregen des wieder zum Leben erwachten Gestirns krönt den Theaterzauber einer mehr als gelungenen Uraufführung.