Das „Reise“-Ensemble

Gespenstische Familienaufstellung

Eugene O'Neill: Eines langen Tages Reise in die Nacht

Theater:Staatsschauspiel Dresden, Premiere:29.11.2024Regie:Sebastian Hartmann

Vom eisernen Gestell zur freien Fläche: Vor gut 15 Jahren nahm sich Hartmann „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ bereits am Schauspiel Leipzig vor. Am Staatsschauspiel Dresden hat er es erneut inszeniert – und wurde nun dafür für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST nominiert. 

Ein trautes Heim war das Landhaus der Familie Tyrone noch nie. Nun unternimmt sie einen letzten Versuch zur Etablierung der harmonischen Ordnung. Der vom Geiz zerfressene Patriarch und abgehalfterte Bühnenstar James ist dem Hochprozentigen ebenso verfallen wie James Junior, freier Theatermacher und folgerichtig: abgebrannt. Der jüngere Sohn, Zeitungsschreiber Edmund, leidet an Schwindsucht. Das wird just an jenem Tag bekannt, an dem Mutter Mary einmal mehr von einer Entziehungskur heimkehrt. Clean ist sie deshalb noch lange nicht. Für alle vier gilt es, ein Familienidyll zu inszenieren, wenigstens für einige Stunden. Doch die Fassade hält nur Augenblicke, rasch zeigen sich Risse auf der glatt polierten Oberflächlichkeit, brechen in Tagesfrist an allen Beziehungslinien Konflikte auf.

Beschädigte Schauspieler

O’Neills 1940 verfasstes, halb-autobiografisches Stück hatte Hartmann damals in Leipzig, am Centraltheater genannten Schauspiel, als stahlhartes Gehäuse umgesetzt. Ein Bauzaun beschnitt den Bühnenraum. Das Publikum saß fast mittendrin im Gespinst gegenseitiger Schuldzuweisungen wie im Kammerspiel. Nun in Dresden zerrinnt das vermeintliche Familienglück unterm Trommelfeuer der Anklagen auf luftig-leerer Bühne. Links am Rand sind schwarze Plastikstühle aufgereiht, mal wird ein Ledersessel hineingeschoben. Das war es. Über allem hängt wie Unheilschwingen ein flügelartiges Gestell, das einige Male halb hinuntergelassen wird und einmal auf dem Bühnenboden als Spielfläche dient. Trotz der Weite des Raums ist das Publikum auch dieses Mal emotional dicht dran. Das besorgen live von Samuel Wiese an Piano und Mischpult erzeugte Klänge. Atmosphärische Schemen setzt das Licht, oft wandern die Figuren durch Nebelmeere.

Erneut nimmt Hartmann den Plot zum losen Anknüpfungspunkt fürs frei assoziative Spiel. Der Originaltext wird in Fragmenten wiedergegeben, wie Tableaus werden Porträts der Figuren aneinandergereiht. Damals setzte er auf Improvisationen. Meisterlich ist das Spiel seiner Ausnahmedarstellenden auch dieses Mal, wenn auch geplant. Es dominieren kleine Gesten und visuelle Miniaturen. Auf monumentale Bilder, die eigentlich sein Signet sind, verzichtet Hartmann – so scheint es zunächst. Doch Licht und Schatten sowie Nebel genügen ihm, um visuelle Kraft zu entfalten.

Formidabel agieren die Menschen auf der Bühne. Tänzer Rônni Maciel spukt als toter Sohn Eugene herum, umschlungen die Mutter, trägt sie auf Händen, umspielt die anderen und zeigt Breakdance-Einlagen. Das fällt so intensiv aus wie die Körperlichkeit der anderen. Ein ohnehin souveräner Torsten Ranft spricht mit jeder Faser, wenn er an der Rampe aus dem beschädigten Schauspielerleben berichtet. Simon Werdelis windet sich als Sohn Jamie unter den Regieanweisungen seines Vaters, fährt aber auch manisch aus dem Anzug. Marin Blülle changiert zwischen dem kränklichen Sohn Edmund, Schalk mit wippend-tanzendem Gang und einem exzentrischen Stummfilmcharakter: Nur, dass er hier brüllen kann. Einmal mehr elektrisiert Cordelia Wege, die schon allein mit ihrer Stimme zu berühren vermag. Jeder Laut scheint aus dem Innersten zu kommen. Ihre Mary ist mal charismatisch-attraktiv, mal gebrechlich und alles dazwischen. Einmal sagt sie: „Musst du immer Gespenster an die Wand malen?“

Formidables Geisterspiel

Die Geister sind schon da. Abwesenheit prägt die Grundstimmung dieser gespenstischen Familienaufstellung, obwohl alle da sind. Die auf sich selbst geworfene schrecklich nette Familie scheitert am eisernen Willen zur Harmonie. Die Inszenierung zeichnet keine klaren Psychogramme, ist vielmehr Abbild spätmoderner Identitätsbrüchigkeit. Dabei ist immer wieder das Theater selbst Thema – schon im Text, bei Hartmann sowieso. „Wenn man mit einem Korken im Mund noch sprechen kann, ist man ein guter Schauspieler“, erklärt der Vater. Die Spielenden fallen mal kurz aus der Rolle und sprechen einmal den Text mit Rollenanweisung. Und der Merkvers fällt: „Das Spiel ist an den Körper gebunden, das Theater an die Zeit.“ Hier flackern absurd-auflockernde Momente auf, etwa wenn Edmund hofft, dass man in der Spielzeitpause das kaputte Requisitentelefon repariert.

Die Inszenierung rollt als hochemotionaler Mix aus Beklemmung und Heiterkeit durch den Zuschauerraum. Was mit Minimalismus beginnt, endet doch im großen Bild (Bühne: Sebastian Hartmann): Ein Bootskörper kreiselt, die Schwingen werden heruntergelassen und aufgestellt: Ein Segelboot wird erkennbar. Sticht es in Fahrt ins Ungewisse? Schlussendlich verlässt Hartmann die ungewissen Gewässer, lässt einen Monolog aufsagen über die Theatergeschichte. Vom Höhlenmenschen reicht der bis zum bürgerlichen Berufsschauspieler Iffland und dem Verrat der Aufklärung am Theater. Ein Verlust wird beklagt: Das Theater als gemeinschaftsstiftender Ort, als Ort der Zusammenkunft, gibt es so nicht mehr. Pädagogik hätte mit dem Nachahmungsspiel Einzug gehalten, statt Stimmen und Stimmungen gemeinsam zu verhandeln. Dem Gespenstischen, das unauslotbarer Urgrund der Gemeinschaft ist, werde kein Raum mehr gegeben, so die Botschaft. Sebastian Hartmann sucht einen Ausweg ins Mystische – zurück oder nach vorn. Daran zu rühren und ein Gespür dafür zu wecken ist ihm gelungen. Frei nach Ludwig Wittgenstein: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.“