Foto: Ensembleszene © Sebastian Hoppe
Text:Michael Laages, am 31. Oktober 2025
Am Staatsschauspiel Dresden verpasst Autor Thomas Melle den „Bakchen“ des Euripides Sprache und Gesicht einer Gesellschaft im Zerfall – und Lilja Rupprecht gelingt eine spektakuläre Inszenierung.
Allerlei Körperteile, übergroß und vielleicht aus halbwegs gehärtetem Gummi geformt, hat das Team der Bühnentechnik gerade hereingetragen, darunter nicht nur Knochen und Innereien, sondern auch einen Klops, der die Ahnung eines Gesichtes trägt. Das blieb übrig von Pentheus, Thebens Herrscher, den die entfesselten Frauen im ekstatischen Bacchus-Ritual dem berauschenden Gott Dionysos geopfert haben. In Stücke haben sie ihn gerissen, als er ihnen zuschauen wollte beim orgiastischen Fest. Der Gott persönlich, als Wegbegleiter für den voyeuristischen Ausflug getarnt, hatte den neugierigen König der Thebanerinnen und Thebaner in die Krone eines hohen Baumes gesetzt – jetzt sah er zwar sehr gut, was die Frauen da so trieben, aber er war auch selbst gut zu sehen… Die starken Frauen rupften den Baum aus dem Boden und rissen den Mann in Fetzen.
Und Agaue, die Mutter des Königs, trägt gar den Kopf des eigenen Sohnes als Trophäe zurück in die Stadt. Das ist das dramatische Finale des Stückes, das der Dichter Euripides vor 2431 Jahren schrieb, kurz bevor er starb. Postum gewann er mit dem Stück noch einmal den lokalen Athener Dramatikerpreis.
Eine herausfordernde Begegnungen mit der Antike
„Die Bakchen“ markieren gerade durch die entgrenzte Grausamkeit des Finales bis heute stets eine der herausforderndsten Begegnungen mit der Antike, zuletzt hatte die Kanadierin Anne Carson eine Neufassung des Textes geschrieben: „Bitch, I’m a Goddess“. Sie verwandelte den Gott Dionyss in eine Göttin. Guy Weizman hat die Antiken-Überschreibung vor drei Jahren in Hannover gezeigt. In der Version des Dramatikers Thomas Melle (und in Lilja Rupprechts Dresdner Uraufführung) wird nun der Gott, der die Menschen so grausam in die Irre führt, zum vielgesichtigen Wesen – und von vielen im Ensemble gespielt. Pentheus, der die Macht des Gottes leugnet und darum zerrissen wird, ist derweil eine Frau – mit Christine Hoppe im Part der Mutter Agaue wird Leonie Hämer als Pentheus zur zentralen Figur der Geschichte.
Thomas Melle hat der spektakulären Fabel auch eine schmale Rahmenhandlung verpasst, die die Geschichte in einen zeitgenössischen gesellschaftlichen Zusammenhang stellt. Chorisch beschwört das Ensemble, im Bühnenraum verteilt, eine Stadt, mit der es wohl gerade zu Ende geht. Aber sind die Vorräte tatsächlich schon aufgebraucht, ist nicht mal mehr Kaffee zu haben? Schweren Herzens und gegen manchen Widerstand entschließt die Gemeinde sich, die Isolation aufzubrechen und Hilfe von außen zu erbitten.
Hätten wir das bloß nicht getan, jammern sie zum Schluss, nach der Katastrophe – aber war tatsächlich nur der „fremde“ Gott, der die eigene Macht beweisen wollte, der Auslöser von derart viel Zerstörung? Oder trug die Stadt (das Land, die Gesellschaft) nicht all den Schrecken, all die Vernichtungsenergie schon in sich? Melles Text legt eher diese Deutung nahe – und lässt ein Kind sie verkünden, das im Finale durch die Röhren der monströsen Körperteile gekrabbelt kommt.
Der Mensch als parasitärer Zerstörer
Im Kind erkennen auch die Überlebenden, dass wohl sie selbst die Parasiten waren. Die Fabel bekommt einen fundamental-ökologischen Unterton – und benennt die Menschheit an sich als parasitären Zerstörer der Welt, in, von und mit der sie lebt. Noch.
Und was tun? Auch da legt Melle deutliche Spuren aus, die weit hinein reichen in die kollektive Psychologie moderner Zivilisation. Wie, wenn der Mensch das Tierische in sich besser kennenlernen und akzeptieren würde, das Unreflektierte, auch das Ekstatische, wie es die Bacchus verehrenden Frauen in der Antike des Euripides praktizierten? Damit kommt Melle einer Haltung nahe, wie sie von anderen Kulturen im antiken Klassiker gelesen wird, etwa in der Version des „Bacantes“-Materials, wie sie der vor zwei Jahren verstorbene brasilianische Regisseur Ze Celso Martinez Correa für das generell ziemlich ekstatische „Teatro Oficina“ in Sao Paulo entworfen hatte.
Mit der Konzentration auf den familiären Kern der Fabel, auf die Mutter eben und den Sohn (der halt in Dresden eine Tochter ist), setzt Lilja Rupprecht einen anderen Schwerpunkt. Und parallel stärkt ihre Inszenierung die Position der beiden „komischen Alten“ im Stück. Torsten Ranft spielt Kadmos, eine Art politischen Übervater der Stadt (er gehört noch zu Thebens Gründer-Generation), Thomas Eisen spielt den blinden Seher und Wahrsager Teiresias. Auch diese beiden verfallen wie im Delirium der Faszination jener Entgrenzung, wie sie die vom Gott Dionysos verführten Bakchen in den Bergwäldern vor den Toren der Stadt zelebrieren. Beide werden zu Kommentatoren bacchantischer Verwirrung – Eisen mit einem zarten Song zur Gitarre, einer kleinen Beschwörung friedlicher Zukünfte, Ranft mit einer munter-rabiaten Hans-Albers-Parodie: Beim ersten Mal, da tut’s noch weh. Aber die Menschheit lernt nicht wirklich – nach dem ersten Schmerz nicht und auch nach keinem weiteren.
Annelies Vanlaere hat eine dunkel verhangene Bühne gestaltet, mit einer ansteigenden Berg-Platte im Zentrum, Christina Schmitts Kostüme lassen sich geschickt ein auf die vielen Facetten der offenbar sehr brüchigen Gesellschaft. Dieses Durch- und Nebeneinander lauert auch in Philipp Rohmers Live-Musik. Und das größte Abenteuer dieser zwei sehr besonderen Theaterstunden ist der vierköpfige Dionysos – wieder Ranft (als Albers), aber auch Philipp Grimm als nackter Verführer, Josephine Tancke und Fanny Staffa. Traum und Alptraum vom beglückenden Kontrollverlust haben viele Gesichter. Thomas Melle fächert sie in seinem starken Text auf, Lilja Rupprecht entfesselt ein verführerisches Spiel mit ihnen – immer haarscharf am Abgrund von Ordnung und Zivilisation.