Die Welt der Spielsucht im Hotelzimmer

Doubles in der Flashback-Schleife

Sergej Prokofjew: Der Spieler

Theater:Opera Vlaanderen, Premiere:13.06.2018Autor(in) der Vorlage:Fjodor Michailowitsch DostojewskijRegie:Karin HenkelMusikalische Leitung:Dmitrij Jurowski

Es geht nicht immer gut, wenn namhafte Schauspiel-Regisseurinnen und -Regisseure sich an das Genre Oper wagen. Häufig wissen sie mit dem oftmals stark gedehnten Zeitmaß der Oper und ihrem durch die Partitur vorgegebenen und meist als sakrosankt begriffenem Ablauf nichts anzufangen. Bei Karin Henkel, der unlängst der Berliner Theaterpreis verliehen wurde, gab es jedoch begründete Hoffnungen, dass sie mit ihrer rhythmischen Begabung, dem präzisen Timing und ihrer Neigung zu stilisierender Überhöhung dem Musiktheater etwas entgegen zu setzen weiß. Tatsächlich gelingt ihr im flämischen Gent mit Sergej Prokofjews „Der Spieler“ ein überzeugender Einstieg in die Gattung Oper.

Am Beginn liegt ein bedrohliches Dröhnen in der Luft. Sind das dumpfe Trommelwirbel oder kommt die Geräusch-Ouvertüre vom Band? Dann ertönt auf Russisch eine Stimme aus dem Off, zitiert aus Dostojewskis Roman. Die Stimme fragt sich in bohrenden Tonfall, was eigentlich in Roulettenburg geschehen sei, jenem fiktiven Ort, in dem Dostojewskis Roman „Der Spieler“ angesiedelt ist.

Dann erst setzt Prokofjews fiebrige, motorisch drängende Musik ein. Karin Henkel erzählt Prokofjews Oper also in der Rückschau, denn zu den raunenden Worten aus dem Off liegt der Protagonist – vielmehr sein Double, wie sich bald herausstellt – in bleiernem Schlaf in einem düsteren Hotelzimmer. In Zeitlupe betritt eine Reinigungskraft den Raum, wirft einen Putzlappen auf den Boden, wischt, hebt den Lappen auf, der nun rote Flecken hat. Blut?

Das fiktive Roulettenburg spielt auf Wiesbaden an, wo Dostojewski eigene Erfahrungen mit der Spielsucht machte, die das große Thema des Romans ist. Neben der Hauptfigur, dem spielsüchtigen Hauslehrer Aleksej, geht es um einen abgewirtschafteten General, der auf die Erbschaft seiner reichen Großtante Baboelenka aus Moskau spekuliert. Doch statt zu sterben, reist die Tante an und verzockt innerhalb kürzester Zeit ihr gesamtes Geld. Dann erspielt Alexej sich ein kleines Vermögen, mit dem er seine Angebetete Polina beeindrucken will. Doch die Sucht treibt ihn immer weiter.

Prokofjews komponierte seine Oper bereits 1917 auf ein größtenteils selbst aus Dostojewskis Dialogen gefertigtes Libretto, doch das Werk musste auf seine Uraufführung bis 1929 in Brüssel warten. Karin Henkel verlegt die schroff gefügte Handlung in ein Hotelzimmer, das Bühnenbildnerin Muriel Gerstner dunkelgrün ausgepolstert und mit einer funzeligen Stehlampe möbliert hat. Kein Casino-Ambiente, keine Spieltische, nur das einsame Zimmer. Sobald die Musik einsetzt, richtet sich der Tänzer Miguel do Vale aus dem Bett auf – er spielt das Double des spielsüchtigen Aleksej – und beginnt einen bizarren Schüttel- und Verrenkungs-Tanz, dem in seinem Dauer-Tremor einfachste Verrichtungen wie das Anziehen einer Hose oder eines Schuhs zur Herkules-Aufgabe werden. Do Vale ist die ins grotesk verzerrte Vergrößerung und Sichtbarwerdung von Aleksejs zerrüttetem Innenleben, dessen singende Verkörperung in Gestalt des Tenors Ladislav Elgr alsbald in einer zweiten Ausgabe des Hotelzimmers auftaucht, die sich hinter dem ersten als perfekte Kopie erhebt. Im Laufe des Abends kommt noch eine dritte Version des Hotelzimmers hinzu, so dass die Figuren, von denen einige wieder mit Doubles gesegnet sind, ständig buchstäblich und zugleich metaphorisch die Handlungs- und Realitätsebenen wechseln. Abgesehen davon, dass alle Ereignisse ohnehin als Flashback des Spielsüchtigen inszeniert sind. Karin Henkel hält so das Geschehen in ständiger Bewegung, sie spielt virtuos mit den brüchigen Personenkonstellationen und führt jede einzelne Figur mit großer Detailfreude und Präzision.

Der Opern-Novizin Henkel kommt entgegen, dass Prokofjews Werk nicht mit Belcanto- oder da-capo-Längen oder spätromantischem Atem gesegnet ist, sondern ohne Arien in knapper, rezitativischer Wort-für-Wort-Vertonung sich dem Tempo des Sprechtheaters nähert. Mit dem Handwerk der Schauspiel-Regisseurin trifft sie nun Prokofjews Tempo genau und reichert die eher holzschnittartig gezeichneten Figuren mit psychologischen Facetten und Brüchen an. Man mag einwenden, dass Prokofjews maschinenhaft drängender Duktus das Psychologische eben gerade nicht meinte, sondern eher in objektivierender Weise gesellschaftliche Selbstzerstörungsprozesse und Tableaus zeigen wollte, aber in Gent funktionieren Henkels Zuspitzungen und sichern die Aufmerksamkeit.

Zumal Dmitri Jurowski das Konzept der differenzierten Durchleuchtung auch im Graben beglaubigt. Jurowski entzieht sich dem ruhelosen Hämmern und den explosiven Entladungen der durchlaufenen Rhythmen Prokofjews keineswegs, aber er präpariert immer wieder Inseln von kammermusikalischer Delikatesse heraus, hört der Partitur kostbare Nuancen ab und sorgt insgesamt für mustergültige Transparenz. Das große Ensemble ist famos besetzt und wirkt sicher im russischen Idiom. Stellvertretend für eine imponierende musikalische Gesamtleistung seien nur die Hauptfiguren benannt: Ladislav Elgr als höhensicherer, mit lyrisch veredeltem Tenor singenden Titelfigur, Anna Nechaeva mit dunkelrot timbrierten, loderndem Sopran als unglückliche Polina, Eric Halvarson als knorriger General und Renée Morloc als grandios formulierende, scharf gezeichnete Baboelenka. Großer Jubel.