Foto: Tadas Girininkas und Ylva Stenberg in "Der goldene Hahn" am Deutschen Nationaltheater Weimar © Candy Welz
Text:Joachim Lange, am 6. November 2022
Erstaunlich ist es schon, dass diese Oper 1909 in Moskau uraufgeführt werden konnte. Auch wenn keine Klarnamen genannt werden – in dem amtsmüden und dann doch kriegsfreudigen Dodon im Stück die Züge eines zaristischen Alleinherrschers zu erkennen, der mit seinen Untertanen (inklusive seinen eigenen Söhnen) macht, was er will, ist nicht allzu schwer. Und auch, dass all die Motive, die in dieser märchenhaften Fabel mitschwingen und ein faszinierendes Ganzes ergeben, durchaus auch als ein Stück für unsere unmittelbare Gegenwart taugen. Selbst wenn man nicht so weit geht, das Ende des Zaren im Stück eins zu eins ins Heute zu übersetzten.
Dass das Märchenhafte der Geschichte eher die Verpackung war und dahinter unter anderem ein Psychogramm eines Herrschenden aber auch ein solches der Beherrschten steht, wird in der Inszenierung am Deutschen Nationaltheater Weimar des renommierten Schauspielregisseurs auf Opernabwegen, Stefan Kimmig, deutlich. Allein schon durch den Ort, in dem dieses musikalische Prunkstück aus der Endphase der Zarenzeit angesiedelt ist.
Der kongeniale Einheitsbühnenraum von Katja Haß ist der Ruinenrest einer einstigen, jetzt verfallenen oder zerstörten Machtzentrale. Betonpfeiler stehen noch, einen Schreibtisch gibt es – aber das war’s dann auch schon mit der Palastherrlichkeit. Diese raumgewordene Postapokalypse ist durch die Vorhänge ringsum wandelbar. Sie taugt auch als Projektion für Mirko Borschts kunstfertig atmosphärische Videos. Die sind meist rot überglühte, durch Symmetrieeffekte überformte und auf diese Weise verfremdete Landschaften, die auch Schlachtfelder sein könnten. Die Bilder enthüllen nicht immer ihren Ursprung, bestehen aber auf ihrer suggestiven Wirkung.
Eingeleitet werden die drei Akte von Rimski-Korsakows letzter Oper durch einen kurzen Prolog, in dem ein Astrologe das Publikum wie ein Spielführer ausdrücklich darauf hinweist, dass es sich um eine frei erfundene Geschichte handelt, aus der man gleichwohl etwas lernen könne. Sänger Taejun Sun versieht ihn mit durch Mark und Bein dringender Höhe und mit einem herrlich abgedrehten Spiel. Um diesen Hinweis auch zum Schluss noch einmal in einem Epilog zu wiederholen und zu beglaubigen, muss der Astrologe, der auch im Stück seine Rolle hat, sogar von den Toten wiederauferstehen, nachdem der Zar ihn im dritten Akt eigenhändig erschossen hatte.
Zwischen Märchen und Wahrheit
In das ständige Changieren zwischen märchenhaft, irrealen Elemente und der Wirklichkeit von Macht, eingebildeter und echter Bedrohung und Krieg sind auch die verschiedenen Akteure eigebunden. Der Astrologe schenkt dem Zaren einen goldenen Hahn, der den paranoiden, amtsmüden Herrscher sicher vor äußeren Gefahren warnt. Der archaische Prototyp eines Frühwarnsystem fürs Militär ist (heute höchst gendergerecht) eine Hähnin, der Heike Porstein im bunten Geflügelkostüm ein durchdringendes Kikeriki verschafft, zu dem auch die Bläser der unter Leitung von Andreas Wolf im großen spätromantischen Opernton schwelgenden Staatskapelle Weimar immer wieder ihren signal-markanten Teil beitragen. Dass Dodon dem Astrologen für diese defensive Waffenhilfe einen freien Wunsch als Bezahlung zugesteht, hat die gleiche Wirkung wie das Versprechen, das König Herodes Salome gegeben hat. Auch hier gibt es Tote, als der Astrologe seinen Preis nennt: Es ist nichts geringeres als die Zarin, die Dodon gerade unter dem Jubel des Volkes heimgeführt hat.
Besonders diese Zarin Schemacha ist nicht ganz von dieser Welt. Bei Kimmig taucht sie schon zu Beginn in der Umgebung (oder den Gedanken?) Dodons auf, als der noch seine Söhne (Jörn Eichler ist Prinz Gwidon und Ali Abdukayumov Prinz Afron) an die Front schickt. Schemacha hatte hier schon Dodons guten Geist Amelfa (Sarah Mehnert) quasi in ihre Dienste genommen …
Nach dem Kriegstod seiner Söhne und nach dem Motto, wenn man nicht alles selbst macht, zieht Dodon zunächst selbst gegen die ominöse feindliche Zarin in den Kampf. Der Mittelakt der Oper, in der Schemacha auf ihrer sehr persönliche auf Verführung setzenden „Kriegsführung“ baut, ist vor allem deshalb der poetisch-musikalische Höhepunkt des Abends, weil sie von Anja Rabes mit einem Kostümtraum in Weiss bedacht wurde und Ylva Stenberg als Königin in des Wortes doppelter Bedeutung der blanke Wahnsinn ist. Grandios, wie sie eine utopische Welt imaginiert und Dodon seine eigene Begrenztheit vorführt, ohne ihn (als Mann und Zar) komplett zu demontieren. Mit einem atemberaubenden Tanz (durchaus im Salome-Format) als Höhepunkt. Der stimmgewaltige, eloquente Tadas Girininkas belässt dem Willkürherrscher das Quäntchen Verführungskraft, mit dem die regierenden Machos dieser Welt auch heute gerne spielen.
Ganz in Weiß, das inzwischen bunte Volk überstrahlend, kehrt das neue Herrscherpaar unter prunkvollem Orchester und Chorjubel (einstudiert von Jens Petereit) heim. Als der Astrologe als Preis die Zarin für sich fordert und der Zar ihn erschießt, hat der nicht nur eine Figur regelwidrig vom Spielfeld genommen, sondern das Schachbrett umgeworfen. Sein Wundervogel und alle anderen geben ihm daraufhin den Rest. Und der wieder erwachte Astrologe versorgt das Publikum mit der Hausaufgabe, das Gesehene nicht für bare Münze zu nehmen, aber etwas daraus zu lernen. Nun denn! Der Jubel in Weimar war heftig und traf alle Beteiligten. Die schöne Zarin freilich am heftigsten.