Szene aus "Die Rache ist mein"

Die Wahrheit als Vexierspiel

Marie NDiaye: Die Rache ist mein

Theater:Schauspiel Stuttgart, Premiere:11.03.2023 (UA)Vorlage:nach dem gleichnamigen RomanRegie:Annalisa EnghebenKomponist(in):Geza Gotard

Es ist ein enormer Schal, den Maitre Susan ihrer Angestellten Sharon um den Hals legt, ein rot leuchtendes Monster von vielen Metern Länge in einer Welt der gedämpften Farben. Sharon wird diesen Schal sorgsam zusammenlegen. Er wird im Bild bleiben während der gesamten Vorstellung, wird die drei Frauen, die hier spielen, schließlich verbinden: eine Wunde, die ihnen allen zugefügt wurde, auf unterschiedliche Weise, vom selben Täter?

„Die Rache ist mein“ ist ein Stück, das keine Gewissheit bietet. Eine Grundkonstellation tritt allmählich aus dem Geschehen hervor: Der Kanzlei der Anwältin Maitre Susane erscheint ein gewisser Gilles Principaux. Er möchte, dass sie die Verteidigung seiner Frau übernimmt. Marlyne Principaux hat ihre drei Kinder getötet, in der Badewanne ertränkt und ihre Leichen in sorgsam familiärer Innigkeit arrangiert. Eine liebende Mutter, die zur Mörderin wurde. Weshalb? Und da ist Sharon, die illegal aus Mauritius nach Frankreich eingewandert ist. Ein Dokument, das ihren Aufenthalt legitimieren könnte, wird von ihren Verwandten in der Heimat zurückgehalten. Weshalb?

Maitre Susane glaubt außerdem, Gilles Principaux wiederzuerkennen. War ihre eigene Mutter nicht vor mehr als 30 Jahren im Haus der Familie Principaux tätig? Nahm sie die Tochter mit an diesen Ort? – Und was geschah dort, zwischen dem Mädchen aus ärmlichen und dem Jungen aus guten Verhältnissen? Oder ist all dies nicht wahr: Einbildung, falsche Erinnerung, Projektion der eigenen Verunsicherung?

Ein Mobile aus Fragezeichen

Annalisa Engheben hat im Stuttgarter Kammertheater mit „Die Rache ist mein“ einen Roman von Marie NDiaye inszeniert. Auf etwa 200 Seiten umkreist sie ihre Hauptfigur Maitre Susane, blickt ins Innere einer Frau, die sich nach außen hin kühl gibt, jedoch von jeder Ungewissheit erschüttert wird. Hat der junge Principaux, so er es denn war, sie belästigt, hat er sie seine Überlegenheit spüren lassen? War er der Grund dafür, dass sie den Beruf der Anwältin ergriff? Marie NDiaye erzählt mit obsessiv fragender, bohrender Sprache, schickt ihre Leser in ein Labyrinth der Spiegelungen und Symbole, in das kaum Licht dringt. Knappe Szenen aus den dunklen, verregneten Gassen von Bordeaux sind die einzigen Bilder der äußeren Wirklichkeit, die im Roman auftauchen.

Bühnenbildner Andrej Rutar hat diese Innenwelt der Anhängigkeiten, Unwägbarkeiten, Symmetrien, der verschleierten sozialen Gewalt, als ein großes, frei schwebendes Mobile aus metallischem Gestänge über die Bühne des Kammertheaters gehängt. Man sieht weit geschwungene Bögen, Rahmen, die die Figuren voneinander absondern, zu Schaukeln werden können, die Umrisse eines Hauses bilden, und eine Treppe, die in diesem Gebilde aufwärts führt. All dies wirft lange Schatten in den sonst leeren Raum, den Jörg Schuchart mit gleichmäßigem Licht füllt und Geza Cotard mit elektronischen Klängen.

Ein Unten und Oben gibt es immer, in diesem Stück: Wenn die Frauen am Boden sitzen, zu Principaux aufblicken, wenn er dort kauert, seine Frau idolisiert: „Marlyne war mal schlank, mal rund, ich weiß es nicht mehr genau. Das war mir gleichgültig. Wie soll ich sagen? Ich liebte den Körper meiner Frau, egal, wie er aussah, denn es war ihr Körper, und ich liebte es, mit Marlyne zu schlafen, mit genau dieser Frau, die Marlyne hieß und deren Bauch meine Kinder beherbergt hatte.“ Aber Kinder, dies gesteht Monsieur Principaux, liebt er im Grunde ja nicht. Nur die eigenen, die liebte er.

Die Szenen, in denen Gilles und Marlyne Principiaux zur Sprache kommen, sind die darstellerisch zentralen Momente der Inszenierung: Peer Oscar Musinowski gibt Principaux eine offene, einnehmende, aber zugleich wendige Körpersprache, zeigt ihn aufrichtig besorgt um das Wohl der Frau, die seine Kinder tötete. Als er aber aufblickt zu ihr, huscht doch ein kleines, schräges Lachen über sein Gesicht. Celina Rongen indes spielt die Marlyne zerrissen: Sie ist ganz die Mütterlichkeit, voller Zuneigung für ihre Kinder und doch auch ihre Mörderin. In einzelnen Szenen schlüpft Rongen auch in die Rolle der Mutter von Maitre Susane; als Marlyne ist sie ein gespaltenes Wesen, kann sich aus der besitzergreifenden Liebe ihres Mannes nur befreien, indem sie ihr Liebstes zerstört, und ist sich dessen bitter bewusst. Sie verschließt die Augen nicht, vor ihrer Tat.

Sharon (Larissa Aimée Breidbach) steht oft im Hintergrund, wirkt abgesondert, rührt verträumt mit den Fingern am Mobile des sozialen Gefüges. Therese Dörr als Maitre Susane taumelt, verletzt sich – der rote Schal wird zu ihrem Blut – steht den anderen Figuren fragend gegenüber oder agiert ihre Verzweiflung aus. Es gibt Momente, in denen das Statische des Spiels aufbricht, Aggression und Dynamik ihren Ausdruck finden, die Schauspieler mit plötzlich schnellen Bewegungen, Sprints von Wand zu Wand, die Situation eskalieren, ehe die Ruhe wieder einkehrt. Sie klettern umher im Gestänge, klammern sich fest: Drei Frauen auf der Schattentreppe der Gesellschaft.

Man kann Principaux nicht töten

Ines Burisch hat für „Die Rache ist mein“ Kostüme geschaffen, die einen seltsam höfischen Charakter besitzen, dabei zugleich die Eigenschaften der Figuren betonen. Therese Dörr trägt einen Rock, der im spitzen Winkel nach vorne stößt, sie wie einen Panzer einschließt, Larissa Aimée Breidbach als Sharon ein schlichtes, langes, weißes Kleid. Celina Rongen scheint in unzähligen Schichten eines biederen Hauskleides zu stecken. Peer Oscar Musinowski schließlich ist umhüllt von einem herrschaftlichen Mantel mit beigen Karos – ein Flechtwerk, das sich zur einen Seite hin auflöst. Maitre Susane und Principaux tragen zudem Handschuhe, und einmal geben sie sich die Hand.

Man kann Principaux nicht töten, sagt Sharon, spät im Stück, zu Maitre Susane. Das Böse, sagt sie, ziehe herum. Es sei mal hier zuhause, mal dort. Es habe im Haus Principaux gewohnt. Es wohne nun in Mauretanien, bei Sharons Verwandten, ihrem Bruder, der sie nicht gehen lassen will. Der sagt, die Papiere, die seiner Schwester ein freies Leben in fremdem Land ermöglichen würden, existierten nicht.
Maitre Susane reist nach Mauretanien, um diese Papiere zu finden. Sharons Bruder belügt sie, im Geheimen aber erhält sie Unterstützung von dessen Frau, Sharons Schwägerin. Dass ein Dieb die Handtasche mit den Papieren raubt, scheint schließlich kaum von Belang zu sein: Die Frauen haben sich auf verschwiegene Weise solidarisiert und Principaux, der Mann mit dem sprechenden Namen, ist hier vielleicht nur noch ein verblassender Harlekin.

„Die Rache ist mein“ ist kein einfaches Stück, obschon Annalisa Engheben Marie NDiayes fast schon kryptischen Roman gekonnt auf seinen Kern reduziert hat. Die Gewissheiten gibt es nicht, die Gesellschaft ist ein Mobile, die Wahrheit ein Vexierspiel, und überall stehen die Fragezeichen.