Szene aus "Ex. Mögen die Mitspieler platzen"

Die toten Zeugen

Gabriel Calderón: Ex. Mögen die Mitspieler platzen

Theater:Schauspiel Wuppertal, Premiere:09.04.2022 (DSE)Regie:Jenke Nordalm

Stimmt: niemand wartet – nicht die Welt, bis sich Menschen und Familien über die Dinge klar geworden sind, die sie einander angetan haben. Und auch die Menschen und Familien warten nicht auf die Welt, bis die sich (mit Meister Pangloss aus Voltaires „Candide“) eingerichtet hat als beste aller möglichen …

Wer sich im Theater die Lust am Grundsätzlichen bewahrt hat, kann an diesen (ausweglosen) Erkenntnispunkt gelangen im Stück mit dem sonderbaren Titel „Ex. Mögen die Mitspieler platzen“. Extrem außergewöhnlich ist an diesem schnellen Theaterstück des in Uruguay lebenden Dramatikers, Regisseurs und neuerdings auch Theaterleiters Gabriel Calderón, dass es nach hochgestochener Philosophie und vorletzten Weisheiten überhaupt nicht aussieht.

Calderón hat in der Tradition südamerikanischen Familientheaters geschrieben – Komödien driften hier gern schnell und scharf ins Katastrophische. Im Uruguay benachbarten Brasilien etwa stehen für diese literarisch-dramaturgische Spezialität die Stücke von Nelson Rodrigues. Mord und Totschlag, Verbrechen und Verrat sind auch bei ihm gern garniert mit innerfamiliärer Gemütlichkeit – bis (na gut!) „… die Mitspieler platzen“. Peter Wallgram hat auch den Titel ziemlich angemessen (also ein bisschen rätselhaft) übersetzt für die deutschsprachige Erstaufführung, die nun das Wuppertaler Schauspiel zeigt im kleinen „Theater am Engelsgarten“.

Familientreffen aus dem Jenseits

Die wichtigste Rolle an diesem Abend spielt eigentlich eine Maschine; genauer: eine Zeit-Maschine. In guter alter Jules-Verne- und „Time Tunnel“-TV-Tradition hat die der junge Wissenschaftler Tadeo erfunden; um Ana zu beeindrucken. Die liebt der junge Mann heftig – leider nur mit Worten, auf die die Frau nicht so oft antwortet, wie er das gern hätte. Sie möchte wohl auch mal Taten sehen, in jeder Beziehung dieser Beziehung. Und weil Ana sich vor allem ein richtig großes Familientreffen wünscht, wo endlich alle mit allen über alles reden, zum Beispiel zu Weihnachten, holt Tadeo per patenter Zeitmaschine reichlich Tote aus dem Jenseits an die festliche Tafel; Anas Mutter und deren Vater, den eigenen Vater und den Onkel, dessen Bruder. Nur Oma ist echt und noch da und hat mitgestrickt am verrückten Plan.

Aber nicht genug mit dieser Absurdität – einer der Untoten begrüßt das Publikum zu Beginn sozusagen als Gastgeber und Strippenzieher des Abends; er lässt uns auch wissen, dass er persönlich den Sprung durch die Zeiten, vom Leben in den Tod und wieder zurück, schon hinter sich hat. Wie das denn?

Dass dieser José nicht ganz von dieser Welt sein kann, ist schon daran zu merken, dass auch er merkwürdig grau-bleich geschminkt durch den Abend geistert – auch Mama, Papa und Opa zeichnet diese Leichenblässe aus. José organisiert und vermischt von Beginn an (und im stetigen Vorn-und-hinten-Wechsel der Kulissenwelt von Vesna Hiltmann) die Gegenwart mit der meist etwa zehn Jahre zurückliegenden Vergangenheit; da nämlich begann die Enkelin Ana, gerade 20 geworden, zum Beispiel den Opa zu triezen mit Fragen nach früher. Aber der wollte nie etwas erzählen, ja nicht mal mehr „Opa“ genannt werden. Über die Familie und deren innere Beziehungen zu reden, ist für den Alten tabu. Auch darum ist er besonders beleidigt, als Zeitmaschinist Tadeo ausgerechnet ihn als Zeugen aus dem Reich der Toten zerrt.

Furiose Vergangenheitsbewältigung

Natürlich lässt Calderón das Publikum ahnen, was da derart tabu geblieben ist: die Zeit der Militärdiktatur in Uruguay. Von 1973 bis 1985 hat sie gedauert, und zum Beispiel der so unerhört sympathische Ex-Präsident Pepe Mujica (mit dem alten VW Käfer als Dienstfahrzeug) gehörte zu denen, die in jener Zeit als „Terroristen“ galten. Auch José, Anas toter Onkel und der Spielmacher des Abends, und dessen Bruder (Anas Papa) Jorge waren Teil jener Widerständler, die sich „Tupamaros“ nannten, nach Tupac Amaru, dem letzten der von spanischen Kolonisatoren hingerichtete Inka-Herrscher. José starb als Opfer schwerster Folter in einem tiefen Brunnen, der Bruder schien ihn verraten zu haben. Tatsächlich aber hatte der Vater der beiden, jetzt der Opa und früher ein Arzt, der sich aus dem politischen Kampf gern raushalten wollte, die Namensliste von Jorges Freunden weiter gereicht an die mörderische Obrigkeit. So starb auch Jorge. Über all das wurde Stillschweigen vereinbart zwischen Opa und Mutter.

Immerzu sorgt José für den Wechsel vom Heute ins Damals und wieder zurück und immer offensichtlicher werden die Details der fatalen Geschichte, wird das Maß an Schuld in dieser Familie. Ana übrigens begreift durchaus ein bisschen langsamer als wir, das Publikum – während Erfinder Tadeo ganz genau weiß, dass all die Untoten auch zügig wieder zurückmüssen ins Totenreich – sonst gibt’s eine Katastrophe. Natürlich ist die unvermeidbar: José schickt statt sich selber Tadeo ins Jenseits; und wird von nun an zur neuen Leitfigur aufsteigen in der zunehmend orientierungsarmen Gegenwart moderner Gesellschaften …

Schon Calderóns Konstruktion ist sehr speziell und funktioniert wie geschmiert. Der Inszenierung von Jenke Nordalm gelingt es obendrein, mit dem überaus animierten Wuppertaler Ensemble das extrem rasante Tempo der Geschichte beizubehalten. Schier zum schwindlig werden ist das, zumal ziemlich viel geschwindelt wird. Keine 90 Minuten dauert das Stück, sehr „well made“ ist es geschrieben und es kommt ganz ohne angestrengt-ideologischen Überbau aus, ohne Textflächen und Video. „Ex. Mögen die Mitspieler platzen“ könnte ebenso gut in Chile, Paraguay oder Brasilien spielen – kaum ein südamerikanisches Land ist ja verschont geblieben vom Schrecken putschender Militärs und der Diktatur danach.

Als Echo dieser Epochen des Schreckens ist diese Art von Theater überall in Südamerika verbreitet: sehr oft sehr politisch, dabei erstaunlich realistisch und fast immer furios schnell. Stücke wie dieses aus Uruguay waren immer wieder eingeladen bei „Adelante“, dem Lateinamerika-Festival in Heidelberg. Zeitgenössisch-junge Dramatik aus heimisch-europäischer Nachbarschaft wirkt demgegenüber oft ein bisschen lau.

Wie gut also, dass dieser Calderón zu sehen ist am Engelsgarten! Kleiner Wuppertaler Wermutstropfen: Auf der Fahrt vom Bahnhof zum Theater und zurück führt der Weg vorbei am toten Kulturdenkmal des vor zehn Jahren geschlossenen Schauspielhauses der armen Stadt, die sich die Renovierung des 60er-Jahres-Baus nicht leisten konnte. Wie, wenn ein so starkes Stück wie das von Calderón nicht in der Schuhschachtel am Engelsgarten, sondern hier stattfinden könnte?

Träumen bleibt erlaubt, auch in Wuppertal.