Der Coundown läuft: Auf dem Podest links Nico Wouterse als der warnende Meteorologe Jack Hubbard und Andrew Finden als J. Robert Oppenheimer, der Vater der Atombombe. Unten mit dem Rücken zur Kamera Danielle Rohr als Kitty Oppenheimer mit dem Chor.

Die Poesie der Bombe

John Adams: Doctor Atomic

Theater:Theater Koblenz, Premiere:09.03.2019Regie:Markus DietzeMusikalische Leitung:Enrico Delamboye

Wenn man sich die Dokumente und Zeugnisse zu Gemüte führt, die uns vom sogenannten Trinity-Test am 16. Juli 1945 in der Wüste von New Mexico überliefert sind, dann kann es einem heiß und kalt den Rücken herunterlaufen. Hier, in Los Alamos, wurde im Rahmen des Manhattan-Projekts der erste Atombomben-Test der Menschheitsgeschichte durchgeführt. Bereits drei Wochen später beendeten die Atombomben-Angriffe auf Hiroshima und Nagasaki den Zweiten Weltkrieg auch in Asien. Schon der Begriff Trinity mit seinem Anklang an die Trinität zeugt ja von einer nicht anders als zynisch zu nennenden Hybris. Insofern hatte der US-amerikanische Regisseur und Autor Peter Sellars durchaus den richtigen künstlerischen Instinkt, als er für das Libretto von John Adams’ 2005 in San Francisco uraufgeführter Oper „Doctor Atomic“ auf überlieferte Texte von den und über die Beteiligten zurückgriff. Die Ausführungen der Bomben-Wissenschaftler und Militärs um den Atomphysiker J. Robert Oppenheimer und den General Leslie Groves sind in ihrer eigenartigen Mischung aus Skrupeln und Selbstherrlichkeit, Larmoyanz und Kaltschnäuzigkeit an Aussagekraft schwerlich zu überbieten.

John Adams hat ein ausgesprochen klangfarbenreiches, opulentes Werk geschaffen, das streckenweise klingt, als habe Phillip Glass beim reifen Richard Strauss noch mal ein paar Kompositionsstunden genommen, an denen hospitierend auch Carl Orff teilnahm. Aber der Eklektizismus hat eine sympathische Unbekümmertheit und wird mit eindrucksvoller Vielschichtigkeit entwickelt. Der Aufwand jedenfalls ist beträchtlich. Man muss acht größere oder große Gesangspartien besetzen, fordernde Chorpartien einstudieren und ein 70-Mann-Orchester aufbieten. Wenn sich ein kleines Theater wie das in Koblenz ein solches Werk auflädt, besteht deshalb sofort Überforderungsverdacht. Doch nichts davon bei der gestrigen Premiere. In dem kleinen, stilrein klassizistisch restaurierten 470-Plätze-Haus sorgte ein umwerfend gutes Ensemble unter der Leitung des scheidenden Chefdirigenten Enrico Delamboye und des Intendanten Markus Dietze als Regisseur für einen ganz großen Abend.

Das Fundament dafür legte nicht zuletzt auch der Bühnenbildner Bodo Demelius. Er nämlich baute die Bühne so, dass das große Orchester auf der Hinterbühne statt im Orchestergraben platziert werden kann. Von dort, in breit auseinander gezogener Sitzordnung hinter dem mit Gaze umspannten Spielraum, erreicht der Sound die Zuschauer in wohltuend transparenter Direktheit. Delamboye nutzt dieses Klangpotential nicht etwa für reißerische Effekte, sondern für eine geschliffen zugespitzte, fein ausbalancierte Komplexität, in die sich der von Aki Schmidt hervorragend einstudierte Chor ausgezeichnet einfügt. Die Sänger erfüllen die Anforderungen der erwähnten Partien mit großer Präsenz und Kultiviertheit, wobei es neben Andrew Findens klar artikuliertem und konturiertem J. Robert Oppenheimer insbesondere die Kitty Oppenheimer von Danielle Rohr war, die bei der Premiere aufhorchen ließ. Ihr heller, einfühlsam geführter Mezzosopran bringt für diese stilistisch sehr facettenreiche Partie genau die richtige Mischung aus lyrischer Leuchtkraft und Chanson-Leichtigkeit mit.

Für solche Sänger und Musiker stellt dieses Werk durchaus dankbare Aufgaben. Den Regisseuren aber hat es Peter Sellars nicht leicht gemacht. Der Charakter des Librettos als Material-Collage bringt es mit sich, dass die Gesangspartien zu keinem tragfähigen dramaturgischen Zusammenspiel finden. Sie bilden eher eine Abfolge oratorischer Monologe und Reflexionen. Und bis heute irritierend bleibt für mich Sellars’ seltsam beliebiger Ästhetizismus, mit dem er – unter Rückgriff auf Verse der indischen Bhagavad Gita sowie auf Gedichte der frühen US-amerikanischen Feministin Muriel Rukeyser, des von Robert Oppenheimer verehrten französischen Lyrikers Charles Baudelaire und des englischen Kleriker-Dichters John Donne – den Schrecken der Atomwaffe mit einer poetischen Aura umgibt. Während so lyrische Abschweifungen, mythologische Anspielungen und die professionellen sowie privaten Seelennöte insbesondere des Ehepaares Oppenheimer viel Raum bekommen, bleiben die Stimmen der japanischen Opfer erstaunlich leise. Erst im finalen Soundtrack, in einer japanischen Frauenstimme, die um Wasser fleht, melden auch sie sich zu Wort.

Es ist Markus Dietze hoch anzurechnen, dass er da die Gewichte ein wenig verschiebt, indem er durch Chöre in Kimonos (Kostüme: Bernhard Hülfenhaus) und durch Videoprojektionen (Georg Lendorff) auch die Welt der Opfer auf die Bühne holt. Dabei zieht er in der Bewegungschoreographie erkennbare Parallelen zu den US-amerikanischen Zivilisten, die anfangs und dann immer wieder erscheinen. Das ist sinnvoll, denn bei einer Waffe von derart gewaltiger und damit undifferenzierter Zerstörungskraft sind es vor allem die vielen „normalen“ Menschen, ist es die nicht direkt am Krieg beteiligte Zivilbevölkerung, die die Militärs und Wissenschaftler zum Opfer ihrer Wunderwaffe machen. Diese Männer der vaterländischen Tat, die Hauptfiguren, identifiziert Dietze durch klare Kennzeichen (Oppenheimers Hut, Groves’ Uniform) und Profile. In dem immer wieder von Videos überblendeten Gaze-Viereck mit einem winklig ansteigenden Steg, der auf einen Beobachtungs-Platz für den Trinity-Test führt, entfaltet der Regisseur bildstarke, oft tänzerisch bewegte Tableaus (Choreographie: Catharina Lühr). Eine stärker zugespitzte Haltung gegenüber den verhandelten Themen allerdings versagt er sich und den Zuschauern. Und gelegentlich (etwa mit der Parade der Bhagavad Gita-Figuren oder wenn die Gottheit Vishnu den Atomblitz tanzt) erliegt die Inszenierung der hier allgegenwärtigen Verführung zur kunstgewerblichen Illustration. Insgesamt aber entfalten die szenischen Bilder einen geschmackvoll werkdienlichen Schauwert. Und das ist nicht wenig bei diesem Werk.

So sahen es wohl auch die Zuschauer, die diese große Leistung eines kleinen Hauses begeistert bejubelten.