Sarah-Jane Brandon (Elisabeth)und Luis Olivars Sandoval (Don Carlo) im Bühnenbild von Katrin Connan

Die Musik als Hoffnungsträgerin

Giuseppe Verdi: Don Carlo

Theater:Theater Bremen, Premiere:18.09.2022Vorlage:Don Karlos, Infant von SpanienAutor(in) der Vorlage:Friedrich SchillerRegie:Frank HilbrichMusikalische Leitung:Marko Letonja

Dieses Mal muss zu allererst von der Musik die Rede sein. Was Marko Letonja, dem Generalmusikdirektor der Bremer Philharmoniker, bei der Eröffnungspremiere der Opernsaison am Theater Bremen mit Verdis „Don Carlo“ gelang, das hatte wirklich Ausnahmerang. Der „Don Carlo“ ist ja ein Meilenstein in Verdis Spätwerk, in dem sich der Komponist mit seinen Librettisten Joseph Méry und Camille du Locle einer doppelten Herausforderung stellt: einerseits Schillers geradezu episch komplexes „dramatisches Gedicht“ in eine operntaugliche Form zu bringen und andererseits damit zugleich den Anforderungen einer Pariser Grand opéra mit ihren Balletten und großen Massenszenen zu genügen. Das Ergebnis, das Verdi in insgesamt sieben Fassungen von 1867 (Uraufführung in Paris) bis 1886 (Neuproduktion in Modena) immer wieder überarbeitet hat, war ein ebenso vielschichtiges wie vielgestaltiges Musiktheaterwerk, das die Konventionen des Belcanto weit hinter sich ließ.

Marko Letonja nimmt sich dieser Musik mit der allergrößten Sorgfalt an. Es ist unüberhörbar, wie sehr er an der Klangbalance arbeitet, wie genau er die Rhetorik der durchkomponierten rezitativischen Entwicklungspassagen gestaltet, wie akribisch er Gesang und Orchesterspiel aufeinander abstimmt. Dass ihm das so gut gelingt, verdankt er allerdings auch einem durchweg erstklassigen Sängerensemble, dem von Alice Meregaglia ausgezeichnet vorbereiteten Chor und dem disziplinierten Spiel seiner Philharmoniker. Wie beispielsweise die Solocellistin Antonia Krebber die Einleitung zu Philipps „Ella giammai m’amò“ spielte, das war ganz große Klasse. Es brauchte eine gewisse Zeit, bis das riesige Ensemble wackelkontaktfrei zusammenfand und die schönen Episoden sich zum dramatischen Spannungsbogen fügten – dann aber war das musikalische Geschehen nur noch hin- und mitreißend!

Erstklassiges Sängerensemble

Mit der Elisabeth hatte die aus Südafrika stammende Sarah-Jane Brandon einen glänzenden Einstand im Bremer Ensemble. Ihr Sopran ist fast noch lyrisch im Charakter, mit glockenhellem Timbre, dabei aber durchaus dramatisch tragfähig, und sie führt ihn mit bezaubernder Musikalität, Delikatesse und Klugheit: subtil in der Dynamik und Agogik, traumwandlerisch sicher in der Intonation. Ihr Partner Luis Olivares Sandoval als Don Carlo verfügt über ein wunderschönes italienisches Timbre, er gestaltet seine Partie ähnlich bewusst wie Brandon. Deren Höhen erreicht er keineswegs mühelos, aber mit guter Technik. Michal Partyka in der Partie des Marquis von Posa war bei der Premiere als indisponiert angesagt – von einer Beeinträchtigung war aber kaum etwas zu hören, im Gegenteil: Nach etwas kehligem Beginn hatte er sich rasch freigesungen und gestaltete schließlich das Abschieds-Duett mit seinem Freund Carlo großartig. Patrick Zielke ist ein robuster Allround-Bassist, der das Leid des vereinsamten Philipp mit Vehemenz und Vitalität zum Klingen bringt, zugleich aber ein intelligenter Interpret, so dass ihm die gebrochenen Züge des Königs keineswegs entgehen.

Bis in die mittleren und kleineren Partien war das Ensemble tadellos durchbesetzt: Taras Shtonda ein Großinquisitor mit gebührender Wucht und Schwärze; Stephen Clark ein Mönch und Karl V. von markiger Finsternis; Nathalie Mittelbach eine etwas eindimensionale, gleichwohl herbe, kraftvolle Eboli; Elisa Birkenheier ein Tebaldo von knabenhafter Frische; Nerita Prokvytytė eine Voce dal cielo mit hell schimmernder Gloriole. Das Publikum feierte sie alle begeistert mit Standing-Ovations.

Regieinfälle

Und es feierte das Regieteam um den neuen Bremer Leitenden Regisseur Frank Hilbrich gleich mit – auch er, der zusammen mit der Leitenden Dramaturgin Brigitte Heusinger und dem Musikdirektor Stefan Klingele die künstlerische Chefetage der Opernsparte bildet, kann sich zumindest insoweit über einen gelungenen Einstand freuen. Seine Inszenierung lebt von einer überdeutlichen konventionell-realistischen Personenführung, die von Alexandre Corazzolas teils zur Bizarrerie neigenden Kostümen eher unvorteilhaft verstärkt wird und die den Figuren ihre Vielschichtigkeit austreibt; und sie lebt von einigen zwar plausiblen, aber dramaturgisch wenig zielsicheren Einfällen.

Abgesehen vom Fontainebleau-Akt, der in Dunkelheit versinkt, als wäre er nur mehr Erinnerung (was Sinn macht), der dann aber urplötzlich von Life-Videos überblendet wird (ohne dass man einsieht, warum) – abgesehen davon spielt die Handlung in Katrin Connans Einheitsbühnenbild einer Arena aus Bücherwänden – in einer Bibliothek also, bevölkert von einigen anämischen Studenten. In der Tat verfügte Philipp II. von Spanien über die größte Bibliothek seiner Zeit. Aber das ist hier natürlich nicht als realistische Szenerie zu verstehen, sondern als Metapher, die für die schriftlich festgehaltene Tradition stehen kann, unter der der spanische Hof erstickt, ebenso aber für Aufklärung und Kritik, die sich gegen diese Erstarrung richtet. In der Tat werden beim Autodafé die Bücher verbrannt, einigen Ketzern wird blutig die Zunge herausgeschnitten – sie werden mundtot gemacht. Und damit auch der Letzte kapiert, wes Geistes Kind diese Repression ist, turnen plötzlich schwarze Höllenhunde im Gefolge der spitzbehüteten Priester durch die Bibliotheksarena, den bizarren Wasserspeiern gotischer Kathedralen nachempfunden: Das finstere Mittelalter erhebt sich schauerlich…

Sisyphos wälzt die Bücher

Das könnte man als Anklage gegen Philipps vom Klerus beherrschten, restaurativen Hof lesen. Eine zweite, eher resignative Metapher jedoch nimmt dieser Anklage die Kraft: Denn Karl V., der Geist des Klosters von San Juste, wird von Hilbrich als Sisyphos-Figur interpretiert, die einen riesigen Bücherklumpen durch die Arena rollen und die Bibliotheksränge hinaufwuchten muss: ein Bild der Vergeblichkeit aufklärerischen Schreibens und politischer Utopien offenbar. Das aber ist eine seltsam affirmative Haltung gegenüber Verdis Freiheitsoper. Es stimmt ja: Verdi zeigt mit gnadenloser Unbarmherzigkeit, dass in einem falschen politischen System jeder Versuch, eine erfüllte Liebe zu leben, eine autonome Existenz zu behaupten und politisch integre Ideale zu verfolgen, scheitern muss. Insofern gibt es bei Verdi in der Tat „kein richtiges Leben im falschen“ (Theodor W. Adorno). Aber das zeigt er ja nicht, damit die Zuschauer am richtigen Leben resignieren und das falsche widerstandslos hinnehmen, sondern damit sie gegen die falschen Systeme opponieren. In diesem Sinne ist gerade die Musik eine große und ausdrucksvolle Protagonistin des „Prinzips Hoffnung“, wie Ernst Bloch, der große Utopist, das einmal genannt hat. Diesen utopischen Impuls unterläuft Hilbrich mit seiner Vergeblichkeits-Metapher.

„Die Hoffnung stirbt zuerst“, ist sein Interview zu diesem Thema im Programmheft überschrieben. Das stimmt aber noch nicht einmal für die Handlung dieser Oper. Sie stirbt erst im letzten Akt, mit dem Auftauchen von Philipp und dem Großinquisitor am Grabmal Karls V. – und sie stirbt so schmerzvoll und so unerträglich trostlos, dass der Zuschauer selbst sozusagen zur Nachfolge Posas und Carlos aufgefordert ist. Diese Oper ganz zu verstehen bedeutet, die Hoffnung aus dem Zuschauerraum hinaus in die Welt zu tragen. Was dank der Musik bei einigen Besuchern dieser Premiere womöglich tatsächlich der Fall war. Hoffentlich!