Foto: Drohend senkt sich das Unheil hernieder. Stuart Skelton (Laca Klemeň), Evelyn Herlitzius (Die Küsterin Buryjovka) und Camilla Nylund (Jenůfa) im Bühnenbild von Paolo Fantin © Bernd Uhlig
Text:Detlef Brandenburg, am 14. Februar 2021
Leoš Janačeks „Jenůfa“ ist für mich eine ebenso spannende wie aktuelle Oper. Spannend ist sie aufgrund ihrer komplexen Charaktere. Die Titelheldin, Ziehtochter der Küsterin Buryjovka, die vom Sohn des Hauses ein uneheliches Kind erwartet; die Küsterin, die diese Schande um den Preis eines Mordes abwenden will; Laca mit seinem aufbrausenden Temperament, Števa mit seinem Leichtsinn – sie alle würden es nur zu gern der geltenden Moral recht machen. Aber sie sind zu schwach dazu. Janáček verurteilt sie deshalb aber nicht etwa, er verurteilt vielmehr die Moral, die diesen Menschen nicht gerecht wird und deshalb im wahrsten Sinne des Wortes inhuman ist. Dazu könnte einem manches an aktuellen Bezügen einfallen: die Rigorosität der political correctness beispielsweise, die aus jedem, der allzu offensichtlich gegen ihre Etikette verstößt, einen Geächteten macht, der im Shitstorm schmoren muss. Oder das rigide Weltbild der Evangelikalen, die die Bibel als Schrift eines absolutistischen Diktators lesen.
Leider ist dem Regisseur Damiano Michielotto, der „Jenůfa“ jetzt an der Berliner Lindenoper inszeniert hat, aber außer ein paar allzu fasslichen Symbolen und einigen hübsch illuminierten Tableaus wenig eingefallen, was die Geschichte für uns heute dringlich machen könnte. Der Bühnenbildner Paolo Fantin hat ein Geviert als halbtransparenten Plastikbahnen geschaffen, durch die hindurch das farbige Licht schön schimmert, und die den Figuren keinen privaten Raum lassen. Von überall her kann jederzeit jemand kommen, was die Komparsen auch fleißig tun. Die Figuren tragen eine leicht gestrige Mode von irgendwann (Kostüme: Carla Teti). Und Michielotto führt die Figuren in einem das Naheliegende betonenden psychischen Realismus und umgibt sie mit verfremdeten Symbolen, die das Naheliegende zum artifiziellen Ereignis machen wollen. Die Kälte der Moral symbolisiert ein Eisblock, ihre durch die schwachen Menschen verursachte Brüchigkeit zeigt Števa, in dem er den Eisblock zerhackt. Mit den so gewonnen Eisbrocken lässt sich sinnreich hantieren, wenn es mal wieder besonders erkältend zugeht. Und wenn das Unheil hereinbricht, senkt sich ein finsterer Brocken von oben, und im Boden tut sich ein Loch auf. Da weißte Bescheid!
Musikalisch dagegen zeigt sich Simon Rattle allen vordergründigen Effekten abgeneigt. Er veranlasst die Staatskapelle zu einem wunderbar konturenklaren, in irisierenden Farben erstrahlenden Musizieren und gewinnt die durchaus mächtig auftrumpfenden Höhepunkte nicht aus dem Effekt, sondern aus der Struktur. Das hat wirklich Klasse! Dass der Chor manchmal nachklappert, mag seiner Verteilung auf Parkett und Ränge geschuldet sein. Königin Corona fordert ihren Tribut, sicher auch in der über Strecken unverbindlich wirkenden Personenführung. Das Sängerensemble ist großartig. Camilla Nylund ist eine hell timbrierte, jugendliche Titelheldin mit schlanker, gleichwohl dramatisch tragender Stimme. Evelyn Herlitzius zeigt die Küsterin mit expressiv lodernder, aber differenziert geführter Stimme nicht als Monster, sondern als gebrochene Seele. Der kraftvoll-herbe Laca von Stuart Skelton hat nach einigen forcierten Drückern zu Beginn neben großem Ausdruck auch viel Einfühlsamkeit. Ladislav Elgr wirkt sowohl vokal wie auch darstellerisch immer mal wieder outriert, gibt der Figur aber eine markante Kontur. Und auch die Nebenrollen sind fast durchweg exzellent besetzt.
Die Fernsehübertragung verstärkte durch ihre Vorliebe für Close-Ups und unruhigen Schnitte leider noch die Überdeutlichkeit von Michielottos Regieeinfällen (die Video-Regie verrät die 3sat-Homepage leider nicht). Musikalisch aber dürfte die Übertragung vor allem in München Freude ausgelöst haben, denn dort tritt Simon Rattle 2023 sein Amt als Chefdirigent des BR-Symphonieorchesters an.