Foto: Inga Lisa Lehr, Markus Gruber und das Ensemble des Theaters Hof in "Helena Citrónová" © H. Dietz Fotografie
Text:Roland H. Dippel, am 30. Oktober 2022
Ein lyrischer Sopran verströmt sich in Melodien, ist fast zu schön. Durch den Orchestersatz gesellt sich zu dieser eine Oboe, dann eine Klarinette und später ein Klavier. Letzteres gehört allerdings zu einer szenischen Salonmusik-Formation von Auschwitz-Häftlingen. Darf das so ungewöhnlich schön und sogar betörend klingen, wenn es um die dunkelsten Begebenheiten der deutschen Geschichte geht?
Natürlich stellten sich das Produktionsteam und die Leitung des Theaters Hofs diese und andere Fragen während der Vorüberlegungen. Aber dann entschlossen sie sich doch zur europäischen Erstaufführung der Oper „Helena Citrónová“. Der thailändische Komponist Somtow Sucharitkul (geboren 1952) verfasste das Textbuch unter seinem Literatennamen S. P. Somtow nach Erinnerungen und Aussagen des realen Vorbilds für die Titelfigur: Die slowakische Jüdin Helena Citrónová (1922-2007) war eine Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Beim zweiten Wiener Auschwitz-Prozess 1972 entlastete sie den KZ-Aufseher Franz Wunsch. Mit diesem hatte sie während ihres lebensgefährlichen Lageraufenthalts (1942 bis zur Flucht 1945) eine Liebesbeziehung und konnte dadurch ihrer Schwester das Leben retten. 2005 griff Laurence Rees in der BBC-Dokumentation „Auschwitz: The Nazis and the ‚Final Solution’“ das Schicksal Helena Citrónovás auf. Die israelische Filmemacherin Maya Sarfaty nahm sich der Konstellation in ihrer Dokumention „Liebe war es nie“ (2020) an.
Als Autor rührt Somtow an ein in Deutschland noch immer spürbares Tabu, wenn es die Liebesbeziehung zwischen der Jüdin Helena Coirónová und dem SS-Aufseher Franz Wunsch, dem „Täter“, zur emotionalen und nicht abwertenden Darstellung bringt. Aber Sucharitkul stammt aus einem vom Nationalsozialismus und seinen Katastrophen weit entfernten Kulturkreis. So steht er nicht in der moralischen Pflicht, in einen kreativen Prozess Signale des Bedauerns, der Ablehnung und Distanz zu den durch die Deutschen begangenen Gräueltaten zu bekennen wie Kunstschaffende mitteleuropäischer Provenienz und Nachgeborene der deutschen Täter.
Sucharitkuls fast unheimlich farbige künstlerische Biographie reicht von dem Roman „Vampire Junction“ aus dem Jahr 1984, der von der Horror Writers‘ Association zu einem der vierzig besten Horrorbücher aller Zeiten gekürt wurde, bis zu einem ihm derzeit beschäftigenden zehnteiligen Opernzyklus „DasJati – The Ten Lives of the Buddha“. Der 70-jährige Multiartist wirkt wie jemand, der zwischen dem literarischen Humanismus von Kurt Vonnegut und dem messianischen Sendungsbewusstsein von Karlheinz Stockhausen steht. Die Frage kann nicht ausbleiben: Folgt Auschwitz als Schauplatz einer Oper einem karrierebezogenen Kalkül oder einem persönlichen Anliegen, anders über Auschwitz zu denken als das im moralischen Schuldbewusstsein Deutschlands möglich ist?
Ästhetik der Grausamkeit
Sucharitkuls Unbefangenheit reizte den Dirigent Ivo Hentschel und den Regisseur Lothar Krause. Neben ihnen waren Karen Schur-Narula und Markus Gruber an der vom Schöpfer der Oper ausdrücklich gewünschten deutschen Übersetzung beteiligt. Das englischsprachige Originallibretto der 2020 in Bangkok uraufgeführten Oper beinhaltete beträchtliche Schwierigkeiten, um im Deutschen eine angemessene Ebene für den drastischen Sprachgebrauch im Kontext des Lagerlebens herzustellen. Der zur Generalprobe und Premiere anwesende Komponist war begeistert.
Diese Produktion gibt die Frage nach der Zulässigkeit von schönen künstlerischen Mitteln und der Ästhetisierung von Grausamkeit an das Publikum weiter. Insofern ist die ästhetische Herausforderung durch „Helena Citrónová“ weitaus spannender als Dramen und Musiktheater, die dem Publikum mit suggestiven Mitteln die eigene Wertung und Beurteilung negativer und positiver Zuschreibungen abnehmen.
Die Hofer Aufführung gerät eindringlich, weil sie mit extrovertierter Ausstellung von Grausamkeit geizt. Ein Nazischerge erledigt einen Lagerinsassen mit einem geräuschlosen Genickschuss, dieser fällt ebenso lautlos zu Boden. Das prägt sich ein. Annette Mahlendorf hat auf der quälend langsam rotierenden Drehscheibe ein Bühnenbild mit Nischen und Lichtplätzen gebaut, das Bedrohung und Angst ohne Dreck und Drastik zeigt. Immer wieder blickt man durch gespannten Stacheldraht in das Lager, in dessen dunklen Nischen sich die Menschlichkeit trotz eines unmenschlichem Dauerdrucks ihren schmalen Weg bahnt.
In diesem Ambiente muss Lothar Krause zu keinen groben Mitteln greifen, um den Geruch von Gewalt und Tod zu zeigen. Auf der humanen Ebene des Darstellens und Fragens kommt „Helena Citrónová“ Weinbergs Oper „Die Passagierin“ sehr nahe, welche allerdings das Lagerleben in Rückblenden vorführt und eine Liebesbeziehung unter den Opfern, aber nicht nicht zwischen Opfer und Täter zum Inhalt hat.
Leuchtende Musik
Helena selbst wird durch Inga Lisa Lehr zu einer Lichtgestalt. Sie singt mit einem noch leichten, in allen Lagen strahlenden und unangestrengten Sopran ohne vokale Leidensmiene. Das macht Helena groß bis zur letzten Begegnung mit Franz einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Oper spart den zweiten Wiener Auschwitz-Prozess mit der Entlastung von Franz Wunsch aus.
Sucharitkul zeigt sich in den zwölf betitelten Nummern als passionierter Mahler-Anhänger. Das hört man an einem üppigen Instrumentalsatz, der den Hofer Symphonikern keinerlei Schwierigkeiten bereitet. Die Zwölftonreihen und die gebrochenen Dreiklänge gehen in den immer wieder spektral wirkenden Details unter. Bei Sucharitkul dürfen auch die Täter Melodien singen und werden vom Orchester so leuchtend umspült wie die Opfer. Beschönigend oder effektvoll ist das, aber mit Respekt vor den Extremsituationen und mit Empathie für alle Figuren. Nichts gerät zu wattierenden Verharmlosung von psychischer und physischer Gewalt. So manche Oper des 19. Jahrhunderts liefert zur akustischen Illustration von Grausamkeiten hedonistische Klangexplosionen, wie sie Sucharitkul an keiner Stelle aufbringen würde. Stimmen und Orchester blühen bei ihm immer wieder auf.
Aber die Üppigkeit hält sich bei der Erstaufführung in Grenzen, weil Ivo Hentschel Schwerpunkte auf Transparenz legt und auftrumpfende Tutti-Stellen erfolgreich klein hält.
Wie schon bei den ambitionierten Produktionen von Glass‘ „Der Prozess“ und Reimanns „Traumspiel“ leistet das Hofer Musiktheater-Ensemble Außerordentliches: Stefanie Rhaue ist Helenas Schwester Rozinka und Franz‘ Mutter, Yvonne Prentki die Mitgefangene Zdenka. Markus Gruber modelliert die psychisch komplizierte Partie des Franz Wunsch mit charakterisierend anrauender Stimme, auch für die ihm zugedachten Kantilenen, die deshalb an keiner Stelle flach oder glatt wirken. Gruber bewegt sich eindrucksvoll auf dem hoch gespannten Trapez zwischen den Gewaltbefugnissen des Aufsehers und Gefühl. Hans-Georg Priese, Marian Müller, Thilo Andersson und Hans-Peter Pollmer zeigen bei ihren administrativen Verrichtungen im Lageralltag, wie die Gewohnheit den Abstumpfungsprozess bedingt. Sie sind keine sadistischen Schergen, sondern Lohnempfänger., bei denen Härte ein in der Dienstanweisung ungenanntes Leistungskriterium ist. Wenn es in dieser Inszenierung eine Lücke gibt, dann nur diese: Der Absturz von der Zivilisation in die Verrohung des Lagerlebens findet kaum statt. Zumal in Deutschland ist es schier unmöglich, diese Oper mit ihrem extremen Spannungsfeld so zu platzieren, dass bei der Darstellung von Empathie und Grausamkeit möglichst viele Aspekte ohne Plakativität in die szenische Lesart Eingang finden. Die Musik erweist sich deshalb nicht als Narkotikum, sondern als Bewusstseinsgift.