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Die hohe Kunst der Kolportage

Giacomo Meyerbeer: Le Prophète

Theater:Badisches Staatstheater Karlsruhe, Premiere:18.10.2015Autor(in) der Vorlage:Eugène ScribeRegie:Tobias KratzerMusikalische Leitung:Johannes Willig

Eine Räuberpistole: Man tut Giacomo Meyerbeers „Le Prophète“ nicht völlig Unrecht, wenn man diese Grand opéra so bezeichnet. Und Tobias Kratzer tut dieser Oper folglich auch nicht völlig Unrecht, wenn er sie am Badischen Staatstheater Karlsruhe genau so inszeniert. Das um keinen dramatischen Effekt verlegene Libretto von Eugène Scribe erfüllt alle Kriterien eines Kolportagedramas, und zwar im wörtlichen Sinne. Denn Scribe hat die Handlung aus der Zeit des „Täuferreichs von Münster“ in den Jahren 1534/35 buchstäblich aus mehreren seiner Populärromane und Voltaires „Versuch einer Weltgeschichte“ zusammengetragen, um darin die Gegenwart der französischen Revolutionen von 1830 und 1848 zu spiegeln. Held der Geschichte ist der von den Wiedertäufern zum Führer erhobene „Prophet“ Jean de Leyde, der sich an die Spitze des Aufstandes gegen den Comte d’Oberthal setzt, Münster mit Gewalt und religiöser Agitation unter seine Herrschaft bringt, damit aber sowohl seine Mutter Fidès wie auch seine Braut Berthe den Wirren der Revolution und den Repressionen der antireformatorischen Kräfte preisgibt. Berthe ersticht sich aus Entsetzen über Jeans Treiben, und als die Truppen Kaiser Karls V. Münster einnehmen, sprengt der, mit der Mutter wieder vereint, sich selbst und den Stadtpalast in die Luft.

Das Ganze ist eine wüste Geschichtsklitterung, die Scribes und Meyerbeers Zeitgenossen aber mühelos als Reflex ihrer bewegten Gegenwart lesen konnten. Die Haltung des Stückes ist dabei ambivalent. Einerseits werden die Wiedertäufer, verkörpert durch die drei Protagonisten Zacharias, Jonas und Mathisen, als verlogen, manipulativ und verräterisch kritisiert. Andererseits wird aber auch der Comte d’Oberthal als zynischer Willkürherrscher denunziert, der an Berthe brutal das Ius primae noctis vollzieht und mit seinen Schergen die Bauern und Bürger terrorisiert. Insgesamt ist die Darstellungsstrategie der Oper klar drauf angelegt, Mitgefühl mit Jean, seiner Mutter und seiner Braut zu erregen, deren eigentliches Ideal ein „unpolitisches“ Leben in bescheidener Beschaulichkeit ist, das ihnen aber die kriegerischen Zeiten verwehren, nach dem Motto: Es gibt richtiges Leben im falschen. Nicht zuletzt aber geht es hier um knallige dramatische Effekte für ein Publikum, das in der Pariser Opéra eine zeitgemäße Sex-and-Crime-Geschichte sehen wollte – eine musikdramatische Räuberpistole eben.

Tobias Kratzer unterzieht das Werk einer grellen Aktualisierung. Von seinem Ausstatter Rainer Sellmaier hat er sich eine moderne zweigeschossige Häuserzeile bauen lassen, deren heruntergekommenes Flair auf die Banlieues französischer Großstädte verweist. Oben vertritt eine Bar mit Pernod-Schildern die Schenke von Jean und Fidès, daneben befindet sich das gemeinsame Schlafzimmer von Mutter und Sohn, unten eine Garage, und im Getränkelager daneben betreibt eine Jugendgang Körperertüchtigung der anspruchsvolleren Sorte. Es sind die Breakdancer der Showgruppen TruCru und Incredible Syndicate, die später die große Balletteinlage des 3. Aktes zu einem furiosen und lauthals bejubelten Show-Act umfunktionieren werden. Das Ganze ist drehbar, an der Rückseite befindet sich eine weiträumige Rampe mit breiter Treppe, insgesamt antwortet Sellmaiers Architektur bei aller Travestie doch bemerkenswert präzise auf Scribes nicht minder präzise szenische Vorgaben. Und Kratzer zieht alle Register von in diesem Kontext einschlägigen Anspielungen: Ein französischer Polizeiwagen steht herum, hier vergewaltigt der vom Grafen zum Polizeichef mutierte Oberthal die arme Berthe; später wird der Wagen in einem  Gewaltexzess der Streetgangs demoliert; ein den Wiedertäufern ergebener Jungen wird im Fonds von Jeans Stretchlimousine missbraucht; ein Zeitungsverkäufer macht sein Geschäft mit der neusten Nummer von Charlie Hebdo – mit einer Prophetenkarikatur auf dem Titel.

Vor diesem Hintergrund würde es natürlich naheliegen, die Wiedertäufer und ihren Propheten als islamistisch radikalisierte Banlieue-Bewohner mit Migrationshintergrund zu zeigen. Aber genau das tut Kratzer nicht, und das ist klug so. Sein Jean ist ein Prediger in weißer Soutane mit Dornenkrone, sein Zeichen ist das Kreuz Christi, die drei Wiedertäufer sind Handlungsreisende in Sachen Erlösung mit etwas altmodischen Straßenanzügen, wie man sie auch von Mormonen kennt. Wenn später auf Facebook-Seiten, in YouTube-Filmen und durch Videobotschaften „gepredigt“ wird (Videos: Manuel Braun), dann verweist Kratzer zwar klar auf die Agitationsmethoden islamistischer Hassprediger. Aber er belässt die Geschichte in der Symbolwelt christlicher Religion und wahrt dadurch trotz der knalligen Aktualisierung eine Verfremdungsebene, durch die das eigentlich Gemeinte hindurchschimmert. Der vermeintliche Realismus ist also ein sehr bewusster Kunst-Realismus. Dazu passt es gut, dass Kratzers Regie ihre eigene Effektverliebt permanent durch Überzeichnung parodiert und damit die typische Stilebene dieser Grande opéra ausstellt, die, wie gesagt, um keinen Effekt und keine Kolportage verlegen ist. Mit seinen knalligen Effekten thematisiert und ironisiert Kratzer die Show als Show und entgeht damit auch den Verlegenheiten einer platten Eins-zu-eins-Aktualisierung. Denn die würde natürlich ebensowenig aufgehen, wie auch Meyerbeers und Scribes Geschichtsklitterungen historisch nicht aufgehen, dafür aber als bühnenwirksame Chiffre aktueller Gegenwarts-Aufreger nur um so besser lesbar sind. Kratzers Darstellungsstrategie ist also raffinierter, als ihre reißerische Oberfläche vermuten lässt. Und sie kommt zudem – in den Choreographien der Massenszenen, im Overkill der Videoeffekte, im Breakdance der beiden Showtruppen – überrumpelnd rasant daher. Trotzdem bringt Kratzer Zeit und Genaugikeit auf, um die Charaktere von Jean, vor allem aber von Berthe und Fidès herzbewegend zu entwickeln. Er ist ein toller Personenregisseur, der liefert, was der Name des Genres verspricht: große Oper!

Die liefern auch der von Ulrich Wagner hervorragend einstudierte Chor und das herausragende Sängerensemble. Nur ein einziger Gast ist hier im Spiel, der Tenor Marc Heller, der den Jean de Leyde mit großer stilistischer Einfühlsamkeit singt und ihm beachtliche vokale Statur gibt: ein füllig-weicher, geschmeidiger Tenor mit cremig-hellem Timbre, dem vielleicht die allerletzte Durchschlagskraft für die großen Höhepunkte fehlt, der sonst aber mit viel Finesse, Wohlklang und Charakterkontur präsent ist. Geradezu umwerfend aber singt und verkörpert Ewa Wolak die Fidès: ein Alt von durchschlagender Wucht und herber Ausdruckskraft, die Tiefe tenoral mit offenem Brustregister, die Höhe dunkel lodernd. Ihre Interpretation mancher Gesangsfinessen von Meyerbeers Vokalstil ist zwar durchaus eigenwillig; als darstellerisch-vokales Gesamtereignis aber ist diese Sängerin eine Wucht! Ina Schlingensiepens Sopran hat nicht diese Größe, die Partie der Berthe ist aber auch per se lyrischer. Schlingensiepen gibt ihr eine funkelnde Schlankheit und Klarheit mit viel Anmut. Ihr Forte klingt etwas grell, aber bei ihrer Todesszene im 5. Akt läuft sie zu großer Form auf. Bemerkenswert auch der sonore Zacharias von Avtandil Kaspeli, während Armin Kolarczyk als Comte d’Oberthal fast zu kultiviert für diesen Bösewicht agiert.

Johannes Willig führt das riesige Ensemble mit großer Umsicht (auch das Ausbleiben der Orgelbegleitung zur großen Soloszene der Fidès im 5. Akt brachte ihn nur kurz aus dem Konzept) und leitet die bestens präparierte Badische Staatskapelle zur subtilen Ausarbeitung der feinen Linien, differenzierten rhythmischen Akzente und exquisiten Farben an. Außerdem zeichnet er den Gliederbau von Meyerbeers kunstvoller Musik mit einfühlsamer Agogik nach – auch wenn manches vielleicht noch ein bisschen mehr Drive vertragen könnte. Am Ende gab es Riesenjubel für das riesige Ensemble, und der war hochverdient. Mit ihren großartigen Sängern und Kratzers zugleich reißerischer wie blitzgescheiter Regie haben die Karlsruher Opernmacher den enttäuschenden „Vasco da Gama“ 14 Tage zuvor an der Deutschen Oper Berlin um Längen übertroffen!