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Die höhere Logik der Leitmotive

Tatjana Gürbaca, Bettina Auer und Constantin Trinks: Hagen

Theater:Theater an der Wien, Premiere:02.12.2017 (UA)Autor(in) der Vorlage:Richard WagnerRegie:Tatjana GürbacaMusikalische Leitung:Constantin Trinks

Im Theater an der Wien kriecht ein dumpfes Dröhnen ins Ohr, noch bevor Constantin Trinks den Taktstock hebt. Klingt da ein kollektives Stimmen der Kontrabässe? Oder kriecht eine Brummi-Kolonne am Naschmarkt vorbei? Dann aber entpuppt sich das Dröhnen als der Soundtrack eines kurzen, stummen Vorspiels, das den zentralen Moment zeigt, von dem alles weg und zu dem alles hinführen wird in dieser Wiener Neufassung von Wagners „Ring“: Dem Mord an Siegfried durch Hagen.

Regisseurin Tatjana Gürbaca, ihre Dramaturgin Bettina Auer und der Dirigent Constantin Trinks haben gewagt, Wagners Monumentalwerk, das mit dem Vorabend „Rheingold“ vier lange Abende umfasst und es auf etwa 15 Stunden Musik bringt, radikal zu dekonstruieren und zu einer Trilogie neu zusammen zu setzen, die nur noch neun Stunden dauert und ihren Blick – ausgehend vom Moment des Mords an Siegfried – auf die zweite und dritte Generation der Protagonisten konzentriert. Der Söhne und Töchter also, die Schuld und Schulden der Vorfahren ertragen, begleichen und bewältigen müssen. Dass ausgerechnet Siegfrieds Tod den Schlüsselmoment einer Neudeutung liefert, ist mit Wagner selbst schlüssig zu begründen, denn genau an dieser Stelle begann Wagner 1848 mit dem Dichten des Librettos. Bevor er merkte, dass er zu diesem Geschehen auch eine Vorgeschichte erzählen musste. Gürbaca und ihr Team erzählen nun den „Ring“ in der Rückschau aus Sicht der drei Beteiligten der Mordszene: Hagen, Siegfried und Brünnhilde – als die betrogene Verräterin, die den Mord erst ermöglicht, weil sie Hagen Siegfrieds verwundbare Stelle verrät. Wobei auch der Kunstgriff des Erzählens in der Rückschau auf Wagners eigene Erzähltechnik verweist, die sich durch sein gesamtes Werk zieht.

Eine formal kühne, aber in der Wahl der Mittel doch sanfte Dekonstruktion also, die vor allem Wagners Musik nahezu unangetastet lässt. Und sie nicht etwa verfremdend überschreibt – wie etwa Helmuth Oehring mit „SehnSuchtMEER“ dem „Holländer“ vergebens beizukommen versuchte. In Wien erklingt Wagner pur, bloß sind die Teile neu miteinander verschraubt, und das in kühnen Sprüngen quer durch die Tetralogie.

Der erste Abend im für Wagner eher klein dimensionierten Theater an der Wien gehört dem Mörder Hagen. Nach dem unheilvollen Dröhnen geht es los mit der ersten Szene des zweiten Akts der „Götterdämmerung“, es folgen aus „Rheingold“ das Vorspiel, die erste, dritte und vierte Szene und dann wieder sechs Szenen aus „Götterdämmerung“. Das Erstaunliche: Was sich ungeheuerlich liest und vermuten lässt, dass harte Brüche und Sprünge hörbar werden, klingt in Wahrheit erstaunlich glatt, musikalisch verbunden durch die höhere Logik der Leitmotive und szenisch beglaubigt durch Gürbacas dichte und lange Erzählstränge sichtbar machende Personenführung.

Der Remix geht zudem musikalisch ganz bewusst auf Kosten der auf das Vegetative zielenden Unmittelbarkeit der berüchtigten Überwältigungs-Ästhetik der Wagner’schen Tonspur. Zumal die verwendete Instrumentierung durch Alfons Abbass vor allem das Blech stark reduziert und Constantin Trinks’ Dirigat ganz auf nervöse Transparenz und Wagners Herkunft von der Spieloper setzt. Nicht verschwiegen sei auch, dass der Komponist Anton Safronov aus Wagners Motivmaterial geschmeidige Übergänge zwischen den neu zusammengesetzten Szenen schrieb und nötige Modulationen ausführte. Insgesamt tönt ein heller, agogisch beweglicher, rhetorisch artikulierender, aber keineswegs gebremster Wagner aus dem Graben, der den Sängern viel Raum lässt.

Bühnenbildner Henrik Ahr zeigt zur Mordszene die Rückseite der Kulisse, später entstehen mit erst zwei, dann drei hellen Wänden einfach abstrakte Räume, die nur sparsam bestückt sind. In den „Rheingold“-Szenen ist der Boden bedeckt mit einem glitschigen Urschlamm, der golden schimmert, die Gibichungen-Halle der „Götterdämmerung“ ist als karger Salon der 1960er Jahre möbliert. Gürbaca und ihr Team werfen nicht nur personell Ballast ab, sondern entzaubern auch die Requisiten: Das Schwert Nothung ist nichts als ein grobes Brotmesser und Alberich braucht für seine plumpen Tricks auch keine Tarnkappe mehr, die nichts als seine Behauptung ist.

Mit „Schläfst du, Hagen, mein Sohn?“, Alberichs Aufforderung zur mörderischen Rache, hebt Gürbacas Rückschau an: Martin Winkler (grandios spielfreudig und der Star des Abends) ist zunächst ein verschwitzt nervöser Widerling im rosa Hemd mit verbundenem Armstumpf, der seinen wie erloschen wirkenden Sohn Hagen (Samuel Youn) fordernd bedrängt, bis dieser wie ferngesteuert zur Rache einwilligt. Die Geschichte der Auslöschung und Traumatisierung des Sohnes Hagen, seine Instrumentalisierung durch seinen wiederum zutiefst erniedrigten Vater Alberich erzählt Gürbaca dann mit den „Rheingold“-Szenen, in denen der kindliche Hagen dem grausamen Spiel der Rheintöchter und der folgenden Überwältigung seines Vaters durch den gewaltbereiten Wotan (Aris Argiris mit öliger Macker-Attitüde) und Loge (Michael J. Scott mit alerten Berater-Gehabe) beiwohnen muss. Gürbaca findet luzide erschreckende Bilder dafür, wie dem Kind systematisch Welt- und Selbsthass eingetrichtert wird. Und wie widerlich übergriffig Alberichs vorgebliche Fürsorge für den Sohn ist, wenn er ihm prüfend im Ohr bohrt und sein mit Spucke getränktes Taschentuch zur Säuberung nutzt.

Es sind oft nur kleine, aber scharf zeichnende Gesten, mit denen Gürbaca Verletzungen und Zwänge zeigt, die heimlichen und unheimlichen Konstellationen zwischen den Generationen beleuchtet und Strategien offenlegt. Wenn etwa Gunther (Kristján Jóhannesson mit Schmalzlocke im Jura-Studenten-Look) Egoshooter spielt, während seine tantige Schwester Gutrune (Liene Kin?a mit gestautem Hausfrauen-Frust) emsig an einem himmelblauen Strampler strickt.

Gesungen wird insgesamt famos und textverständlich, einzig Ingela Brimbergs erster Auftritt als Brünnhilde gelingt zwar hoch expressiv, aber stimmlich noch durchwachsen. Fazit: Ein viel versprechender, etwas mehr als drei kurzweilige Stunden dauernder Auftakt einer erhellenden Neudeutung. Wagner hält das nicht nur aus. Er scheint sogar davon zu profitieren.