Foto: Zoe Kissa (Dorothée), Agnes Zwierko (Madame de la Haltière) und Mirka Wagner (Noémie) © Monika Rittershaus
Text:Georg Kasch, am 13. Juni 2016
So ein Happy End gibt’s nur im Märchen: Am Ende setzt sich der Tanz-Prinz durch – gegen den Intendanten-König, gegen eine böse, fratzenhafte Gesellschaft, gegen die Doktrin der schönen Körper. Er wirft seine Ballettschuhe weg und umarmt die humpelnde Cendrillon. Dabei sollte er eigentlich seine Primaballerina finden im großen Ballett-Wettbewerb: Deutschland sucht die Super-Cinderella, deren Disney-Abbild die Passform vorgibt, in die sich alle zu zwängen versuchen.
Mag das Ende utopisch sein – im Ganzen ist es diese „Cendrillon“ an der Komischen Oper Berlin so gar nicht. Jules Massenet selbst liefert für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seiner Märchenoper von 1899 die besten Voraussetzungen. Zum einen schweißt er die verschiedensten Kompositionsstile von der Einstimmigkeit über barocke Polyphonie bis zum Impressionismus mit einer äußerst farbenreichen Orchestrierung zu einer faszinierenden Einheit zusammen. Zum anderen sind seine Figuren psychologisch überraschend genau motiviert.
Eine ernstzunehmende Märchenoper also, die Damiano Michieletto bei seinem Regie-Debüt an der Komischen Oper als Geschichte eines doppelten Erwachsenwerdens erzählt. „Cendrillon“ spielt bei ihm in der Welt des Balletts, einer Welt voller Ehrgeiz und Neid, normierter Körper und Konkurrenzdenken. Der Startänzer-Prinz sucht seine Primaballerina, die Ballettmeisterin-Stiefmutter will ihre unbegabten Töchter unterbringen. Cendrillon aber liegt mit einem kaputten Bein im Krankenhaus und weigert sich, das Ende ihrer Karriere zu akzeptieren. Tanzen? Das geht nur mit Zauberkraft – oder im Traum. Überraschend, wie Bühnenbildner Paolo Fantin in seinem tiefen, schmucklosen, etwas angegrauten Raum, halb Ballettprobensaal, halb Krankenhaus, diese Traumstimmung hervorruft.
Was Michielettos Inszenierung bei ihrer Übertragung in die Ballettwelt an logischen Stolpersteinchen produziert, macht sie locker durch eine neue Dringlichkeit der Geschichte wett. Wenn sich Cendrillon bei Massenet umbringen will, weil der Prinz sie scheinbar nicht liebt, dann wirkt das im Märchenkontext etwas aufgesetzt. Wenn sie sich hier, im Krankenhaus, mit Pillen vollzustopfen versucht, dann eben auch, weil eine Zukunft für sie mit einem offenbar permanent versehrten Bein nicht lebenswert erscheint.
So häufen sich die Momente, in denen einem schier der Atem wegbleibt wegen der Grausamkeit der Menschen und der Ausweglosigkeit von Cendrillons Schicksal. Etwa als sich Cendrillon und der Prinz im Märchenwald zum ersten Mal seit dem Auswahl-Ball begegnen – da fahren bemalte Prospekte in die triste Realität herunter, tanzt ein Paar, das ihnen äußerlich gleicht, die herrlichsten Petipa-Figuren, während Cendrillon vergeblich versucht, ihr kaputtes Bein vor dem Prinzen zu verstecken.
Das geht einem auch deshalb so an die Nieren, weil sich in Nadja Mchantafs Stimme Verzweiflung und Euphorie kontrastieren, sich dramatischer Aufschrei und duftig-leichte Glückskoloratur abwechseln – und ihr Gesang völlig mit ihrer zutiefst berührenden Darstellung verschmilzt. Zumal sie herrlich mit Karolina Gumos als Prinz harmoniert, deren Mezzo hell und kraftvoll strahlt. Ihr androgyner Trotzkopf ist ein spätpubertär depressiver Teenager, der sich plötzlich entscheiden muss: Tanzkarriere oder ein Leben an der Seite einer faszinierenden Frau, die er als federleichte Ballerina kennenlernt, die sich aber als gehbehindert erweist.
Wo bleibt bei so viel Realismus das Märchen? Zum einen in der Musik, an der Henrik Nánási und das Orchester der Komischen Oper weben, oft duftig und leicht, wobei sie die dramatischen Momente ziemlich brutal betonen. Massenet wird das nicht unbedingt gerecht, diesem Meister der Zwischentöne, aber es passt zur düsteren Deutung der Inszenierung. Zum anderen klingt und singt das Märchen in den Feen, alte Frauen in grauen Mänteln (Klaus Bruns schuf die klug zitierenden Kostüme), die rührend langsam über die Bühne tapern, Glitter verpusten und meterweise Stoff weben, um daraus Cendrillons Ballkleid zu schneidern.
Sicher ergeben sich in dieser starken Deutung logische Brüche. Sicher könnte man sich auch die funkelnden Koloraturen der Fee präziser vorstellen – Mari Eriksmoen tupft sie zuweilen etwas nachlässig hin. Und vielleicht ist diese travestierende Tanz-Gesellschaft, angeführt von Agnes Zwierkos biestiger Stiefmutter (die insbesondere ihre tiefe Lage für eine vokale Abgründigkeitsstudie nutzt) und verkörpert vom spielfreudigen und vokal präsenten Chor, doch ein bisschen eindimensional fies. Im Ganzen aber beglückt diese „Cendrillon“-Inszenierung, weil es ihr gelingt, ein Werk, das man auch als Belle-Époque-Realitätsflucht abtun könnte, in eine packende Gesellschaftsstudie zu verwandeln. Und sie dafür die richtigen Protagonisten hat.